Jede dritte Führungskraft in Deutschland steckt in einer Identitätskrise

Führungskräfte tragen wesentlich zu der erfolgreichen Performance von Teams, Abteilungen oder ganzen Betrieben bei. Sie selbst fühlen sich häufig jedoch nicht ausreichend unterstützt. Dies äußert sich auch teilweise in der Ambivalenz ihrer eigenen Rolle und den Selbstzweifeln in Bezug auf ihre Ziele. Dies ist das Ergebnis des neuen „Führungskräfte-Radars 2019“ der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung (RMI) an der Universität Witten/Herdecke.
 

Gefühl, den eigenen Ansprüchen an eine Führungskraft nicht gerecht zu werden

Die repräsentative Befragung unter knapp 1.000 Führungskräften in Deutschland zeigt, dass 30 Prozent der Befragten auf einer vorgegebenen Skala eine hohe Führungsbelastung angeben. Jede fünfte Führungskraft (21,4 Prozent) glaubt, den eigenen Ansprüchen an eine Führungskraft nicht gerecht zu werden. Jeder Vierte (25,6 Prozent) stimmt der Aussage zu, mehr zu einer Gruppe beizutragen, wenn sie von jemand anderem geführt wird, anstatt selbst zu führen. Nimmt man hinzu, dass weitere 25 Prozent bei den entsprechenden Aussagen nur teilweise zustimmen, kann man bei der Hälfte der deutschen Führungskräfte davon ausgehen, dass sie ihrer Verantwortung nicht unbeschwert nachkommt.

Dies stellt ein gravierendes Führungsproblem für Unternehmen dar: Eine hohe Belastung wirkt sich signifikant negativ auf den Erfolg von Führung aus. So gibt es beispielsweise weniger Verbesserungen in der Produktivität und eine erkennbar geringere Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, sagt: „Die Gestaltung einer motivierenden und sinnstiftenden Unternehmenskultur ist die Führungstechnik der Zukunft. Sie ist zentrale Aufgabe für das Top-Management, den Aufsichtsrat und die Gesellschafter in gleicher Weise.“

Führungsgift: Zieldiffusion, viel Bürokratie, Zweifel an den Mitarbeitenden

Gerade die Gruppe mit hohen Werten bei „Führungsbelastung“ beklagt diffuse Unternehmensziele, zu viel Bürokratie für die eigenen Aufgaben und nimmt Mitarbeitende in ihrem Führungsumfeld als destruktiv wahr. So stimmen diejenigen mit einer geringen Führungsbelastung deutlich häufiger zu, dass ihre Aufgaben klar sind (87,3 Prozent zu 81,9 Prozent), und deutlich weniger häufig, dass ihr Arbeitsbereich stark formalisiert ist (44,2 Prozent zu 56,3 Prozent). 

Die Studie zeigt auch, dass rund 44,7 Prozent der stark belasteten Führungskräfte eine skeptische Haltung zu ihren Mitarbeitenden haben. Bei den weniger belasteten sind es lediglich 16,4 Prozent. Gelingt es den Führungskräften nicht, die Motivation ihrer Mitarbeitenden zu steigern, zeigt sich ein Demotivationseffekt direkt bei den Führungskräften und es droht ein Teufelskreis der Leistungsabnahme auf beiden Seiten. Dabei ist die Haltung der Befragten durchaus ambivalent: Gegen diesen Teufelskreis spricht, dass bei den eher positiven Aussagen über die Mitarbeitenden die belasteten Führungskräfte sogar häufiger zustimmen als die weniger belasteten (57,7 Prozent zu 51,7 Prozent).

Führungskräfte brauchen Unterstützung

Wirksame Führung ist keine Selbstverständlichkeit. Sie hängt auch von günstigen Bedingungen im Unternehmen ab. Liz Mohn: „Führungskräfte selbst brauchen motivierende und unterstützende Bedingungen, um wirksam zu führen und eine kreative und innovative Arbeitsatmosphäre für ihre Teams zu schaffen sowie Veränderungen umzusetzen.“ 

In Entwicklungsgesprächen mit Führungskräften sollte daher deren Belastung thematisiert werden. Gegebenenfalls kann ihnen über die Personalabteilungen mit ebenenübergreifenden Workshops und auch Coachings Unterstützung angeboten werden. Jede Führungskraft muss, will sie dem Anspruch eines sich wandelnden Führungsanspruches gerecht werden, an sich arbeiten. Wer dauerhaft unter der Führungsverantwortung leidet, sollte sich aus der Verantwortung nehmen und andere Aufgaben wahrnehmen. Gleichzeitig wird es eine Gemeinschaftsaufgabe von Aufsichtsrat und Gesellschaftern sein, nicht nur die harten Fakten zu begutachten, sondern auch einen stärkeren Fokus auf die Bedingungen wirksamer Führung und die Evaluation der Organisationskultur zu legen. Damit geht ein klarer Auftrag einher, eine regelmäßige Überprüfung der Führungsbedingungen vorzunehmen und an einer unbürokratischen, zielorientierten und motivierenden Führungskultur kontinuierlich zu arbeiten.

Literatur

Möllering, G. (2020). Führungsmüde? Deutschlands Führungskräfte (ver-)zweifeln an ihrer Rolle. Bertelsmann Stiftung (Hrsg.).