Eine vermutlich vielen bekannte Szene aus dem Arbeitsalltag: In Meetings herrscht Schweigen, obwohl offensichtlich Verbesserungsbedarf besteht. Mitarbeitende haben Ideen, trauen sich aber nicht, sie anzusprechen, während andere ständig Vorschläge einbringen. Warum zeigen manche Initiative und andere nicht, obwohl sie gleichermaßen motiviert und kompetent sind?
Die Forschung hat bislang vor allem Persönlichkeit und Motivation als treibende Kräfte für proaktives Verhalten identifiziert. Doch es mehren sich Hinweise, dass dies nicht die ganze Geschichte ist. Ein Grund, warum Mitarbeitende sich mit proaktivem Verhalten zurückhalten, obwohl sie wissen, was zu tun wäre, ist, dass sie unsicher sind, ob ihnen diese Initiative zusteht. So nannten Beschäftigte in einer Studie von Milliken et al. (2003) häufig statusrelevante Faktoren, um zu erklären, warum sie nicht sprechen: „Wenn man jung in der Firma ist, spricht man nicht, es sei denn, man wird angesprochen“ (S. 1465).
Dr. Mustafa Akben von der Elon University und Prof. Dr. Ryan M. Vogel von der Temple University haben dieses Phänomen nun systematisch untersucht. Ihre kürzlich im „Journal of Applied Psychology“ erschienene Studie führt ein neues Konzept ein. Die Proaktivitätserlaubnis, definiert als das subjektive Gefühl von Mitarbeitenden, berechtigt zu sein, Initiative zu ergreifen. Die Forschenden zeigen, dass selbst motivierte und kompetente Menschen oft passiv bleiben, wenn sie sich nicht befugt fühlen, proaktiv zu sein.
Der theoretische Hintergrund: Dominanztheorie des deontischen Denkens
Die Forschenden nutzen die Dominanztheorie des deontischen Denkens (Cummins, 2000). Diesem Ansatz zufolge leben Menschen in sozialen Hierarchien, in denen sie ständig abwägen müssen, welche Verhaltensweisen ihnen gestattet sind. Im Arbeitskontext bewerten Mitarbeitende folglich, ob proaktive Handlungen für sie persönlich erlaubt sind.
Konkret vermuten die Autor*innen, dass einige Faktoren, wie sozialer Status und Beziehungsqualität zur Führungskraft, das Erlaubnisgefühl fördern, während organisationale Faktoren wie konsistente Regeln und strenge Normen es eher hemmen sollten.
Eine Studie mit fast 500 Teilnehmenden
Diese Annahmen wurden mit 388 Mitarbeitenden und 110 Führungskräften aus 35 Organisationen in der Türkei getestet. Die Autor*innen führten drei Befragungen im Abstand von jeweils drei Wochen durch. Ziel dieses Vorgehens war, verschiedene Variablen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu erfassen und mögliche Messfehler durch die verwendeten Fragebögen im Nachhinein statistisch rauszurechnen. Zum Zeitpunkt 1 wurden die Prädiktoren (wie Status, Anspruchsdenken, Führungsbeziehung) sowie Kontrollvariablen erhoben, zum Zeitpunkt 2 die Proaktivitätserlaubnis und zum Zeitpunkt 3 das tatsächliche proaktive Verhalten. Die Mitarbeitenden bewerteten dabei ihre Erlaubniswahrnehmung selbst, während die Führungskräfte das proaktive Verhalten beurteilten.
Die zentralen Ergebnisse
Die Befunde bestätigen die Hypothesen der Forschenden weitgehend:
- Proaktivitätserlaubnis treibt proaktives Verhalten: Die wahrgenommene Erlaubnis sagte proaktives Verhalten vorher über etablierte Prädiktoren wie proaktive Persönlichkeit, Selbstwirksamkeit und Motivation hinaus.
- Sozialer Status und Anspruchsdenken: Mitarbeitende mit einem höheren sozialen Status im Arbeitskontext (d.h. mehr Ansehen, Respekt und wahrgenommene Bedeutung innerhalb der Organisation) fühlten sich eher berechtigt, proaktiv zu sein. Auch psychologisches Anspruchsdenken zeigte einen positiven Zusammenhang. Menschen, die glauben, ihnen stehe mehr zu, nehmen mehr Erlaubnis wahr.
- Die Qualität der Führungsbeziehung: Die Beziehungsqualität zur Führungskraft erwies sich als besonders einflussreich. Mitarbeitende mit hochwertigen Austauschbeziehungen berichteten deutlich höhere Proaktivitätserlaubnis.
- Das Paradox der klaren Regeln: Je konsistenter die Organisationsregeln, desto geringer die wahrgenommene Erlaubnis. In Teams mit streng durchgesetzten Normen fühlten sich Mitarbeitende ebenfalls weniger berechtigt. Klare Regeln signalisieren offenbar, dass Abweichungen unerwünscht seien, egal wie konstruktiv.
Kritische Würdigung
Die Studie überzeugt durch ihr mehrzeitiges Design mit verschiedenen Datenquellen und die Kontrolle zahlreicher Prädiktoren. Allerdings gibt es wichtige Einschränkungen: Die Untersuchung wurde ausschließlich in türkischen Organisationen durchgeführt, was die Übertragbarkeit auf andere Kulturen einschränkt. Die Türkei ist eine Kultur, in der formale Regeln und Hierarchien eine größere Rolle spielen. In anderen kulturellen Kontexten könnten die Ergebnisse anders ausfallen.
Zudem bleibt offen, ob die wahrgenommene Erlaubnis für proaktives Verhalten tatsächlich zu besseren Arbeitsergebnissen führt. Die Studie zeigt, dass die erlebte Proaktivitätserlaubnis mit mehr proaktivem Verhalten einhergeht, aber nicht, ob dieses Verhalten auch für die Organisation wertvoll ist. Auch die kausale Richtung ist nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise führt erfolgreiches proaktives Verhalten auch zu einem größeren Erlaubnisgefühl.
Die begrenzte Anzahl untersuchter Faktoren lässt weitere Einflussfaktoren außer Acht. Beispielsweise könnten auch Teamkultur, organisationale Fehlerkultur oder die Persönlichkeit der Führungskraft eine Rolle spielen.
Was bedeutet das für die Praxis?
Trotz dieser Einschränkungen liefert die Studie erste wichtige Hinweise für die Praxis.
Erlaubnis explizit machen: Führungskräfte sollten bereits im Onboarding konkret werden: „Teil Ihrer Rolle ist es, Verbesserungsvorschläge zu machen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie auf mich zukommen, wenn Ihnen etwas auffällt.“ In Meetings aktiv nachfragen und Erfolgsbeispiele teilen: „Sarahs Idee hat uns 20 % Zeit gespart. Solche Initiativen brauchen wir.“ Diese explizite Kommunikation könnte besonders dort wichtig sein, wo Mitarbeitende aufgrund ihres Status oder ihrer Position unsicher sind.
Beziehungsqualität strategisch aufbauen: Die Befunde legen nahe, dass regelmäßige Einzelgespräche, nicht nur bei Problemen, hilfreich sein könnten. Aktiv nach Ideen zu fragen („Sie arbeiten täglich damit. Was würden Sie ändern?“), mögliche Fehler als Lernmöglichkeit aufzeigen („Danke, dass Sie das ausprobiert haben. So lernen wir.“) und Erfolge sichtbar zu machen, könnte das Erlaubnisgefühl stärken.
Statusunterschiede bewusst ausgleichen: Neue Mitarbeitende könnten explizit ermutigt werden. „Gerade weil Sie neu sind, haben Sie einen wertvollen Außenblick.“ In Meetings gezielt auch ruhigere Teammitglieder einzubeziehen oder ein rotierendes System einzuführen (jede Woche ist jemand anderes für Verbesserungsvorschläge zuständig), könnte helfen, statusbedingte Unterschiede zu verringern.
Regelwerk kritisch prüfen: Ein Regelaudit könnte klären, welche Regeln wirklich nötig sind. Explizite Freiräume zu schaffen (etwa „20-Prozent-Zeit“ für eigene Projekte oder Experimentier-Budgets), die Formulierungen zu ändern (von „Mitarbeitende müssen“ zu „Mitarbeitende dürfen“) und erfolgreiche konstruktive Regelabweichungen zu feiern, könnte signalisieren, dass Initiative erwünscht ist.
Teamkultur reflektieren: Eine Fehlerkultur durch regelmäßiges „Failure-Sharing“ ohne Schuldzuweisungen zu etablieren, verschiedene Kanäle für Ideen anzubieten (nicht jede*r traut sich, im Meeting zu sprechen) und Normen explizit zu machen („Bei uns ist es okay, auch unreife Ideen zu teilen. Wir entwickeln sie gemeinsam weiter“) könnte helfen.
Fazit
Die Studie weist stark darauf hin, dass Proaktivität nicht nur eine Frage von Motivation und Fähigkeit ist. Die wahrgenommene Erlaubnis ist ein eigenständiger, oft übersehener Faktor. Während bekannte Faktoren wie Selbstwirksamkeit und Motivation weiterhin wichtig sind, hängt die Erlaubnis zur Proaktivität stark von Status, Beziehungen und organisationalen Strukturen ab.
Diese ersten Befunde legen nahe, dass ein differenzierter Blick auf diese Faktoren lohnenswert sein könnte, sowohl bei der Auswahl als auch bei der Entwicklung einer proaktiven Arbeitskultur. Organisationen sollten nicht nur motivierte Menschen einstellen, sondern auch aktiv daran arbeiten, dass sich alle berechtigt fühlen, ihre Ideen einzubringen. Denn am Ende bleiben sonst viele brillante Ideen unausgesprochen, einfach weil jemand dachte: „Das steht mir nicht zu.“
Weitere Forschung wird zeigen müssen, wie stabil diese Befunde über verschiedene Kulturen und Kontexte hinweg sind und welche weiteren Faktoren das Erlaubnisgefühl beeinflussen.
Literatur
Akben, M., & Vogel, R. M. (2025). The role of permission in the employee proactivity process. Journal of Applied Psychology, 110(9), 1264–1282. https://doi.org/10.1037/apl0001271
Cummins, D. (2000). How the social environment shaped the evolution of mind. Synthese, 122(1/2), 3–28. https://doi.org/10.1023/A:1005263825428
Milliken, F. J., Morrison, E. W., & Hewlin, P. F. (2003). An exploratory study of employee silence: Issues that employees don’t communicate upward and why. Journal of Management Studies, 40(6), 1453–1476. https://doi.org/10.1111/1467-6486.00387
Dieser Beitrag wurde verfasst von Charlotte Wangemann.







