Warum Mitarbeitende zu Fehlverhalten schweigen und wie ethische Resilienz hilft

Jörn Basel

Unethisches Verhalten in Organisationen ist selten das Werk einzelner Täter*innen. Die eigentliche Gefahr geht oft von den stillen Mitläufer*innen, den strukturellen Anreizen und den kulturellen Dynamiken aus, die Fehlverhalten ermöglichen oder gar belohnen. Der folgende Beitrag untersucht fünf psychologische und organisationale Mechanismen, durch die unethische Komplizenschaft entsteht, und zeigt auf, wie Organisationen ihre ethische Resilienz gezielt stärken können.

Ein Beispiel

Man stelle sich eine Bäckerei vor, die besonders wohlschmeckende Schokobrötchen verkauft. Was die Kundschaft nicht weiß: Den Brötchen ist eine Substanz beigemischt, die süchtig macht und dafür sorgt, dass man kaum noch andere Brötchen essen möchte. Sicherlich lässt sich dieses Vorgehen als ethisch fragwürdig bezeichnen, doch wie verhält es sich mit den beteiligten Personen? Trifft der Vorwurf des Fehlverhaltens auch die Verkäufer*innen, die nur ahnen können, dass die Nachfrage ungewöhnlich ist? Oder die Bäcker*innen, die lediglich den Auftrag der Geschäftsleitung umsetzen, den Absatz zu steigern? Und schließlich: Welche Verantwortung trägt die Leitung selbst, die unter dem Druck der Eigentümer*innen zwar finanzielle Vorgaben formuliert, aber zugleich einen Graubereich offenlässt?

Die klassische Perspektive auf unethisches Verhalten betont zwei zentrale Erklärungsansätze. Zum einen wird die Verantwortung häufig einzelnen fehlbaren Akteur*innen zugeschrieben – den sogenannten „Bad Apples“, sinngemäß den faulen Äpfeln, deren persönliches Fehlverhalten das gesamte System zu verderben droht. Zum anderen wird auf die Bad Barrels, also die faulen Fässer, verwiesen: Damit sind organisationale Strukturen, Kulturen und Anreizsysteme gemeint, die unethisches Verhalten begünstigen oder gar hervorbringen (Basel, 2024; Remmerbach, 2019). Wie das Beispiel aus der Bäckerei zeigt, greift diese Gegenüberstellung jedoch zu kurz. Zwischen individuellen Täter*innen und defekten Systemen existiert eine dritte, oft übersehene Ebene – die der Kompliz*innen, die unethisches Verhalten nicht selbst initiieren, aber durch Wegschauen, Schweigen oder passives Mitwirken zu seiner Stabilisierung beitragen. Dieses stille Mitlaufen ist selten Ausdruck bewusster Kriminalität, sondern entsteht aus alltäglichen psychologischen Dynamiken wie Loyalität, Anpassungsdruck oder moralischer Entlastung – Faktoren, die in Organisationen unethische Strukturen unbemerkt verfestigen können (Tenbrunsel & Messick, 2004).

Warum werden Mitarbeitende zu Kompliz*innen?

Bazerman (2022) identifiziert hierzu fünf zentrale psychologische Treiber unethischer organisationaler Komplizenschaft, die sich auch in jüngeren Unternehmensskandalen wie dem VW-Abgasskandal „Dieselgate“ oder der Bayer Glyphosat-Debatte wiederfinden lassen:

  1. Indirekte Schadensverursachung
    Unethisches Verhalten wird häufig toleriert, wenn der Schaden nicht unmittelbar durch die Hauptakteur*innen verursacht wird. Wer lediglich Empfehlungen ausspricht, empfindet sich oft nicht als verantwortlich, obwohl es ohne die Empfehlungen nicht zu dem Schaden käme. Ein prägnantes Beispiel bietet die Rolle von McKinsey & Company in der US-amerikanischen Opioidkrise: Das Beratungsunternehmen unterstützte Purdue Pharma bei der Vermarktung des hochgradig suchterzeugenden Schmerzmittels OxyContin – zu einem Zeitpunkt, als der weit verbreitete Missbrauch bereits dokumentiert war (Roseman et al., 2025). Diese indirekte Beteiligung ermöglichte moralische Distanz und trug zur systemischen Komplizenschaft bei.
  2. Moralische Kurzsichtigkeit
    Komplizenschaft entsteht leichter, wenn übergeordnete Erfolgsziele moralische Überlegungen überlagern. Wird der Fokus zu stark auf Umsatz, Wachstumsraten oder Marktanteile gelegt, verschwimmen ethische Grenzen. Der Abgasskandal bei Volkswagen zeigt dies exemplarisch: Das Streben nach Rekord-Verkaufsmargen und Marktführerschaft führte dazu, dass Manipulationen an Abgassystemen als legitimes Mittel zum Erreichen ambitionierter Ziele wahrgenommen wurden. Wirtschaftlicher Erfolg wurde zum dominanten Bezugsrahmen, der ethische Bedenken verdrängte.
  3. Unterlassungseffekt
    Menschen bewerten negative Konsequenzen aus aktivem Handeln meist als schwerwiegender als solche aus Unterlassung (Spranca et al., 1991). Daher wird ein unethischer Status quo häufig stillschweigend hingenommen. In Organisationen führt dies dazu, dass Mitarbeitende Fehlverhalten tolerieren, weil sie Eingreifen als riskanter empfinden als Schweigen. So wurde etwa in verschiedenen Finanzinstituten während der Finanzkrise 2008 riskantes oder unethisches Verhalten geduldet, weil potenzielle Whistleblower negative persönliche Folgen fürchteten. Passivität wird so zum Motor moralischer Erosion.
  4. Dammbruch-Effekt
    Unethische Praktiken entstehen selten plötzlich, sondern entwickeln sich schrittweise. Kleine Regelüberschreitungen werden zunächst toleriert und schließlich normalisiert. Beim Enron-Skandal zeigte sich deutlich, wie über Jahre hinweg kleine Unregelmäßigkeiten und kreative Bilanzierungsmethoden zur systematischen Täuschung führten. Mit der Zeit erodierten moralische und regulatorische Barrieren vollständig – der „Damm“ brach, und Fehlverhalten wurde Teil der Unternehmenskultur (Sims & Brinkmann, 2003).
  5. Singuläre Schuldzuweisung
    Nach ethischen Verfehlungen konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit meist auf Einzelpersonen oder das Topmanagement. Diese vereinfachte Schuldlogik verdeckt, dass unethisches Verhalten oft durch ganze Strukturen und Netzwerke ermöglicht wird. Im Fall Enron etwa lag die Verantwortung nicht nur bei einzelnen Führungskräften, sondern auch bei den prüfenden Institutionen und Berater*innen, die durch Wegsehen oder Mitwirken das System stützten. Solche singulären Schuldzuschreibungen verhindern, dass Organisationen aus systemischen Fehlern lernen.

Wie können Sie die ethische Resilienz stärken?

Aus systemischer Perspektive entsteht Komplizenschaft nicht durch individuelles Fehlverhalten, sondern durch Muster in Kommunikation, Routinen und unausgesprochenen Erwartungen. Systemische Führung erkennt solche Dynamiken und gestaltet sie aktiv, um moralische Spannungen sichtbar und bearbeitbar zu machen. Dafür braucht es Strukturen, die Vertrauen fördern, Lernprozesse ermöglichen und Verantwortung gemeinsam tragen (vgl. Smith et al., 2014). Auf folgenden Gestaltungsfeldern können Organisationen ethische Resilienz verankern: psychologische Sicherheit, ethische Reflexion und organisationales Lernen sowie geteilte Verantwortung.

  • Psychologische Sicherheit
    Mitarbeitende müssen darauf vertrauen können, Kritik oder Zweifel ohne negative Konsequenzen zu äußern. So führte beispielsweise ein internationales Technologieunternehmen regelmäßige „Speak-up Fridays“ ein: offene, hierarchieübergreifende Diskussionsrunden, in denen Führungskräfte gezielt auf kritische Rückmeldungen reagieren und daraus Maßnahmen ableiten.
  • Ethische Reflexion und organisationales Lernen
    Ethische Fragen sollten Teil des Alltags und nicht nur der Krisenbewältigung sein. Einige Unternehmen integrieren kurze „Ethical Check-ins“ in Meetings oder führen nach Projekten „Ethical After Action Reviews“ durch. So werden Zielkonflikte früh sichtbar und ethisches Lernen wird zur festen Routine.
  • Geteilte Verantwortung
    Verantwortung für ethisches Handeln sollte nicht auf einzelne Rollen oder Funktionen beschränkt bleiben. In einem multinationalen Industriekonzern wurden in jedem Geschäftsbereich „Ethics Champions“ etabliert – Mitarbeitende, die Diskussionen zu Integritätsthemen initiieren und als Ansprechpersonen fungieren. Dadurch wird ethische Verantwortung in die Breite getragen.

Fazit

Organisationen, die ethische Resilienz aufbauen wollen, müssen die strukturellen Treiber unethischer Komplizenschaft aktiv erkennen und adressieren. Solange Rückkopplungsschleifen, Machtasymmetrien oder kulturelle Tabus unangetastet bleiben, verlieren selbst ausgefeilte Ethikrichtlinien ihre Wirkung und bleiben Papiertiger. Erst wenn Vertrauen, Reflexion, Lernen und geteilte Verantwortung fest in die organisationalen Strukturen eingebettet sind, entsteht eine Kultur, in der Integrität nicht nur gefordert, sondern tatsächlich gelebt wird.

Literaturliste zum Download

 

 

Weitere Artikel zum Thema