Eine Seite in jeder Führungskraft lehnt Selbstfürsorge ab

Führungskräfte müssen viele Herausforderungen meistern, ihr Team zusammenhalten und im Unternehmen Verantwortung übernehmen. Auf eine Herausforderung sind sie jedoch häufig nicht vorbereitet: Selbstfürsorge. Warum ist Selbstfürsorge in der Führungsrolle nicht immer einfach und wie kann ein Selbstgespräch Abhilfe schaffen?

Egal ob Digitalisierung, Veränderungsprozesse, Mitarbeiter:innenbindung oder hoher Zeit- und Erwartungsdruck, die Herausforderungen für Führungskräfte sind bereits vielfältig. Seit einiger Zeit rückt eine weitere, sich von den bekannten Anforderungen abhebende Herausforderung zusehends in den Fokus: Die Selbstfürsorge von Führungskräften. 

Zum einen sorgen Führungskräfte, welche gut für sich selbst sorgen, in aller Regel auch besser für ihre Mitarbeiter:innen, zum anderen führt der stetige Anstieg der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen zu mehr Bewusstsein für dieses Thema. 

Selbstfürsorge ist trotz all ihren positiven Effekten deshalb eine Herausforderung für Führungskräfte, da sie Zeit, Energie und oft genug ein gewisses Umdenken mit Blick auf sich selbst erfordert. Das Bild der Macher:innen, welche nichts brauchen außer genug Herausforderungen, die sie endlich bewältigen dürfen, scheint immer noch verbreitet zu sein. Genau deshalb ist Selbstfürsorge nicht selbstverständlich, obwohl sie einen entscheidenden Faktor für eine gesunde und nachhaltige Führung darstellt (Kluge, 2022). 

Es gibt viel, was Führungskräfte aktiv tun können, um Selbstfürsorge zu betreiben. Die Möglichkeiten reichen von bewusst gesetzten Grenzen über geplante Lücken bei der Terminplanung, mehr Selbstreflexion, das Annehmen von Unterstützung, Aktivitäten, durch die man gut für sich sorgt, bis hin zu gesunder Ernährung und ausreichend Schlaf. 

Eine unerwartete Hürde bei der Umsetzung 

Im Coaching und in der Beratung von Führungskräften wird bei aller Einsicht für die Notwendigkeit von Selbstfürsorge und für die vorhandenen Möglichkeiten jedoch eins immer wieder deutlich: Es gibt noch eine ganz andere Herausforderung beim Ausüben der Selbstfürsorge. Eine, mit der man nicht gerechnet hat oder von der man glaubte, man könnte sie kontrollieren. Denn eine Seite in Führungskräften scheint sie förmlich daran zu hindern, Selbstfürsorge selbstverständlich zu betreiben: 

Dies zeigt sich am deutlichsten in Sätzen, welche Führungskräfte über sich selbst sagen und in denen ihre Glaubenssätze und Antreiber zu Tage treten. Formulierungen darüber, was muss oder nicht sein darf, und sogar abfällige Bemerkungen über das eigene Leistungsvermögen oder die vermeintliche eigene Faulheit sind keine Seltenheit. Aber was kann man tun, wenn man merkt, dass eine Seite in einem der Selbstfürsorge eindeutig ablehnend gegenübersteht und einen sogar dazu antreibt, eigene Bedürfnisse oder Grenzen zu übergehen? 

Ins Gespräch kommen 

Man kennt dies aus anderen Kontexten und Beziehungen, in denen eine Kontaktaufnahme mit dem Wunsch beginnt: „Ich möchte gern mal über etwas mit dir reden.“ Nicht immer schwant einem dabei etwas Gutes. 

Aber in der Beziehung zu sich selbst? In der Regel kommt einem diese Art der Kontaktaufnahme zu seiner ablehnenden Seite bezüglich Selbstfürsorge neu und auch etwas befremdlich vor. Doch es lohnt sich, mit genau dieser ablehnenden Seite von sich selbst ins Gespräch zu kommen. 

Zeit für ein hilfreiches Selbstgespräch 

Dabei gibt es eine Vorgehensweise, welche sich im Coaching und in der Beratung von Führungskräften als sehr effektiv gezeigt hat und die sich im Alltag individuell praktizieren lässt. 

Zuerst sollte man der ablehnenden Seite einen Namen geben. Der Name sollte sich stimmig anfühlen und kann z. B. den eigenen Vornamen in Verbindung mit einer Eigenschaft umfassen (z. B. Nörgelthomas, innerer Richter). Der Kreativität sind dabei keine Grenzen gesetzt. 

Für das angehende Zwiegespräch sollte man sich einen zweiten Stuhl hinstellen, auf dem man in der Rolle der ablehnenden Seite zu Beginn Platz nimmt. Man überlegt, was diese Seite einem zu sagen hätte, und imaginiert sich selbst auf dem ersten Stuhl. Nun sagt man sich laut und deutlich, weshalb man aus Sicht der ablehnenden Seite keine Selbstfürsorge betreiben sollte (Hat man es z. B. nicht verdient? / Ist sie unwichtig für einen selbst?) und wie man sich aus Sicht der ablehnenden Seite stattdessen zu verhalten hätte (Über Grenzen gehen / Funktionieren). Man darf sich in diese „Rolle“ der ablehnenden Seite ruhig etwas hineinsteigern. 

Ist man damit fertig, begibt man sich auf den ursprünglichen, den ersten Stuhl und fühlt in sich hinein und sagt der ablehnenden Seite dann, was man empfunden hat bei deren Ausführungen. Was hat es mit einem gemacht? Wie fühlt es sich an, wenn Selbstfürsorge für sich so direkt abgelehnt wird? Und dann sagt man der imaginierten ablehnenden Seite auf dem zweiten Stuhl dies genauso laut und deutlich. 

Im Anschluss daran überlegt man, was man eigentlich von dieser ablehnenden Seite braucht, und sagt ihr dies genauso laut und deutlich. Was erwartet man von ihr? Was wünscht man sich? Welche Bedürfnisse möchte man gern von der ablehnenden Seite gewürdigt sehen?  

Im Anschluss löst man die Situation auf, stellt die Stühle auf ihre ursprüngliche Position und überlegt sich, wie es einem mit diesem kurzen Zwiegespräch gegangen ist. Gab es z. B. Neues oder Unerwartetes? Wie hat es sich angefühlt, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen? 

Das Zwiegespräch kann, je nach Bedarf, mehrfach hin- und hergehen. Wichtig ist dabei, die Rollenverteilung von der ablehnenden Seite und dem eigenen Ich, welches mehr Selbstfürsorge benötigt, bewusst aufrechtzuerhalten. Zudem können weitere Fragen eingebaut werden, z. B. ob die ablehnende Seite bereit wäre, auf die benannten Bedürfnisse einzugehen oder was denn die ablehnende Seite brauche, um sich auf eine Unterstützung einlassen zu können. 

Das Zwiegespräch kann wiederholt durchgeführt werden, z. B. dann, wenn man sich über einen inneren Widerstand beim Thema Selbstfürsorge bewusst wird. 

Der Nutzen dieses Rollenspiels 

Berechtigterweise kann die Frage aufkommen, weshalb man als Führungskraft solch ein Rollenspiel mit sich selbst aufführen sollte? 

  1. Zunächst führt dieses Rollenspiel oft dazu, dass man zum ersten Mal bewusst formuliert, was wie abgelehnt wird. Die Formulierung hilft dabei, bewusst mit diesem ablehnenden Teil in Kontakt zu kommen; oft geschieht diese Ablehnung nämlich unbewusst. 
  2. Zweitens hilft dieses Rollenspiel dabei, sich mehr und bewusster von der ablehnenden Seite zu dissoziieren, also zu lösen. Man verwechselt sich nicht mehr mit der ablehnenden Seite und hat einen anderen Abstand zu ihr und damit einen anderen Handlungsspielraum. 
  3. Als Drittes wird man sich durch die bewusste Formulierung der eigenen Bedürfnisse in diesem Punkt klarer und kann dies an den dissoziierten Teil kommunizieren, also für sich eintreten. Dadurch setzt man sich aktiv damit auseinander, was man braucht, um Selbstfürsorge zu betreiben. 

Bei dieser Vorgehensweise handelt es sich um eine unterstützende, hilfreiche Technik. Zu Beginn kann es etwas gewöhnungsbedürftig sein. Nicht selten kommt man sich beim ersten Mal „irgendwie doof“ vor oder möchte sich nicht vorstellen, dass die Kolleg:innen das mitbekämen. Man ist durch die Anwendung dieser Technik jedoch weder schizophren noch seltsam. Man arbeitet vielmehr auf der Höhe der Zeit und unterstützt sich effektiv bei den Herausforderungen als Führungskraft. 

Sollte man sich mit der Technik gar nicht anfreunden können, besteht die Möglichkeit, erst einmal etwas leichter zu beginnen. Man kann den oder die Partner:in oder eine:n gute:n Freund:in fragen, welche Eigenschaft einen aus deren Sicht abhält, Selbstfürsorge auszuüben. Vorausgesetzt, man nimmt die Sichtweise der Person an, könnte man sich in Situationen, in denen es einem schwerfällt, gut für sich zu sorgen, fragen, was diese Eigenschaft wohl damit zu tun hat. 

Fazit 

Selbstfürsorge ist für Führungskräfte heute unerlässlich, gleichzeitig stellt sie eine weitere Herausforderung dar. Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstfürsorge für sich als Führungskraft umzusetzen. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass es oft eine innere Seite gibt, welche der Selbstfürsorge ablehnend gegenübersteht. Um dieser Seite auf bewusster Ebene begegnen zu können, begibt man sich in ein Zwiegespräch mit dieser. Dies hilft dabei, sich der Seite bewusst zu werden, sich von ihr zu distanzieren und die eigenen Bedürfnisse zu sehen sowie für diese einzustehen.

Literatur 

Klug, K., Felfe, J., & Krick, A. (2022). Does self-care make you a better leader? A multisource study linking leader self-care to health-oriented leadership, employee self-care, and health. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(11), 6733.