Diskriminierung bleibt eine zentrale Herausforderung für soziale Gerechtigkeit, weil sie oft nicht erkannt wird. Eine aktuelle Studie zeigt: Menschen haben einen systematischen blinden Fleck und übersehen Diskriminierung aufgrund der Attraktivität besonders häufig.
Die kürzlich im „Journal of Personality and Social Psychology“ erschienene Studie von Dr. Bastian Jaeger von der Universität Tilburg und seinem Team liefert anhand von Experimenten mit 3.591 Teilnehmenden einen neuen Befund: Menschen sehen Attraktivitätsdiskriminierung nicht nur als weniger problematisch an, sondern sie nehmen sie oft schlicht nicht wahr.
Das Phänomen: Gleiche Diskriminierung, unterschiedliche Reaktionen
Die Forschenden verwendeten ein Experimentaldesign. Teilnehmende sahen zunächst Bewerber*innen für eine Stelle, ausgewogen bezüglich des Geschlechts, der Hautfarbe und Attraktivität. Anschließend sahen sie, wer eingestellt wurde. Die zentrale Manipulation dabei war: Manchmal waren nur Männer eingestellt (Geschlechterdiskriminierung), nur Weiße (rassistische Diskriminierung) oder nur Attraktive (Attraktivitätsdiskriminierung). In der Kontrollbedingung waren die Einstellungen hinsichtlich des Geschlechts, der Hautfarbe und Attraktivität ausgeglichen.
Wie wurde Attraktivität gemessen?
Attraktivität ist zwar teilweise subjektiv, doch die Forschenden minimierten dies durch einen systematischen Ansatz. Sie verwendeten Bilder aus der Chicago Face Database, die bereits von 1.087 unabhängigen Bewerter*innen validiert worden war. Jedes Gesicht von durchschnittlich 54 Personen wurde auf einer 7-Punkte-Skala bewertet. Die Forschenden wählten dann pro Kategorie (Geschlecht × Hautfarbe) gezielt die Extreme aus: die drei am niedrigsten und am höchsten bewerteten Personen.
Zusätzlich wurde in jeder Studie durch Manipulations-Checks geprüft, ob Teilnehmende die Unterschiede wahrnahmen. Die Effekte waren enorm groß und rund 97% aller Teilnehmenden bewerteten die „attraktive“ Gruppe konsistent als attraktiver. Bei extremen Ausprägungen besteht somit ein hoher Konsens zwischen Bewerter*innen, was die Forschenden nutzten.
Die Ergebnisse waren eindeutig. Geschlechter- und hautfarbenabhängige Einstellungen wurden als deutlich unfairer bewertet als ausgeglichene. Bei Attraktivitätsdiskriminierung, selbst wenn ausschließlich attraktive Personen eingestellt wurden, zeigte sich kaum eine Reaktion. Dieses Muster replizierte sich über sechs präregistrierte Studien, verschiedene Stimulussets (echte Fotos und KI-Bilder) und Kontexte (Einstellungen und Gerichtsurteile) hinweg.
Zwei Erklärungen: Legitimität oder fehlende Aufmerksamkeit?
Die Forschenden testeten zwei Hypothesen:
Legitimität: Menschen könnten Attraktivitätsdiskriminierung weniger problematisch finden. Tatsächlich zeigen frühere Studien: Voreingenommenheit gegenüber „hässlichen Menschen“ wird als etwas akzeptabler bewertet als gegenüber „schwarzen Amerikaner*innen“ (Crandall et al., 2002).
Aufmerksamkeit: Die alternative Erklärung ist subtiler. Menschen könnten attraktivitätsverzerrte Ergebnisse als fair bewerten, nicht weil sie die Diskriminierung gutheißen, sondern weil sie sie nicht bemerken.
Was Menschen spontan wahrnehmen
In einem weiteren Experiment sollten 599 Teilnehmende aufschreiben, was ihnen an verzerrten Einstellungen auffiel. 65% der Teilnehmenden in der Geschlechterdiskriminierungs-Bedingung erwähnten spontan Geschlechterdiskriminierung, 72% bei rassistischer Diskriminierung nannten diese. Aber nur 23% in der Attraktivitätsbedingung erwähnten überhaupt Attraktivität als Auswahlkriterium.
Dies ist bemerkenswert, denn die Attraktivitätsunterschiede waren äußerst groß, da die Forschenden gezielt die attraktivsten und unattraktivsten Personen aus großen Datenbanken ausgewählt hatten. In nachträglichen Checks erkannten 97% der Teilnehmenden die Attraktivitätsunterschiede problemlos. Dennoch übersahen sie die Verzerrung zuvor bei der Fairness-Beurteilung.
Aufmerksamkeit experimentell manipuliert
Ein zusätzliches Experiment testete gleichzeitig die Aufmerksamkeits- und die Legitimitätshypothese. 405 Teilnehmende sahen attraktivitäts- oder hautfarbenverzerrte Personaleinstellungen. Die Hälfte erhielt den neutralen Hinweis, dass ein Algorithmus festgestellt habe, dass attraktive (oder weiße) Personen überrepräsentiert seien. Die Teilnehmenden bewerteten erneut die Fairness der Personalentscheidungen.
Die Ergebnisse unterstützten beide Hypothesen. Als Teilnehmende auf die Attraktivitätsverzerrung hingewiesen wurden, sanken die Fairness-Bewertungen drastisch (von 5,55 auf 3,61 auf einer 7-Punkte-Skala). Bei der rassistischen Diskriminierung war der Effekt kleiner (von 3,41 auf 2,72), da diese meist auch ohne Hinweis bemerkt wurde. Selbst mit Hinweis wurden rassistisch verzerrte Einstellungen als unfairer bewertet, was ein Hinweis auf den Legitimitätsmechanismus ist.
Einschränkung: Der Algorithmus-Hinweis könnte auch Erwartungseffekte erzeugt haben – Teilnehmende gaben möglicherweise niedrigere Fairness-Bewertungen, weil sie dies als erwünschte Antwort interpretierten, nicht nur, weil ihre Aufmerksamkeit gelenkt wurde.
Begrenzte Aufmerksamkeitskapazität
Das letzte Experiment hat untersucht, ob Menschen Attraktivität grundsätzlich ignorieren oder ob ihre Aufmerksamkeit von anderen Dimensionen abgelenkt wird. 785 Teilnehmende sahen Bewerber*innenpools, die entweder in Geschlecht, Hautfarbe und Attraktivität variierten oder nur in der Attraktivität (alle waren weiße Frauen).
Wenn Geschlecht und Hautfarbe nicht variierten, bewerteten Teilnehmende attraktivitätsverzerrte Einstellungen plötzlich als deutlich unfairer. Wenn aber Geschlecht und Hautfarbe variierten, gab es kaum einen Unterschied in der Beurteilung der Fairness von verzerrten vs. ausgeglichenen Personalentscheidungen.
Dies deutet auf eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität hin: Menschen priorisieren bestimmte Dimensionen (Geschlecht, Hautfarbe) und übersehen andere (Attraktivität). Doch es gibt eine Ausnahme: Wenn Geschlecht und Hautfarbe gar nicht variieren können, z. B. weil alle Bewerberinnen weiße Frauen sind, verschwindet dieser blinde Fleck. Dann lenken Menschen ihre Aufmerksamkeit auf Attraktivität und erkennen die Diskriminierung plötzlich als unfair.
Methodische Einordnung
Die Studie überzeugt durch methodische Sorgfalt. Sechs der insgesamt acht Studien waren präregistriert, die Effekte replizierten sich konsistent. Jedoch gibt es Einschränkungen. Alle Studien wurden in westlichen Ländern (USA, Niederlande) durchgeführt. In Kulturen mit anderer Salienz von Attraktivität könnten die Befunde anders ausfallen.
Zudem fokussierten die Studien auf spezifische Diskriminierungsformen (zugunsten von Männern, Weißen, Attraktiven). Weniger prototypische Formen könnten anders wahrgenommen werden.
Implikationen für die Praxis
Awareness-Trainings differenzieren: Trainings sollten explizit auf weniger saliente Diskriminierungsformen hinweisen, nicht nur auf Geschlecht und Hautfarbe. Wichtig dabei: Vermitteln, dass das Übersehen solcher Diskriminierung nicht auf Gleichgültigkeit, sondern auf begrenzte Aufmerksamkeitskapazität zurückgeht.
Strukturierte Prozesse und Mehrfachperspektiven: Da Menschen Verzerrungen nicht spontan bemerken, sollten Auswahlprozesse strukturiert werden – etwa durch anonymisierte Bewerbungen, standardisierte Interviews und Mehrfachbeurteilungen. Besonders wirksam: Verschiedene Personen prüfen gezielt auf verschiedene Diskriminierungsdimensionen.
Technologische Unterstützung: Algorithmen könnten in Echtzeit auf statistische Verzerrungen hinweisen – ähnlich wie in der Studie zur Aufmerksamkeitskapazität, wo ein Hinweis auf Überrepräsentation die Wahrnehmung drastisch veränderte. Visualisierungen, die den gesamten Bewerber-Pool und die Ausgewählten gegenüberstellen, können Verzerrungen sichtbar machen.
Diversity-Metriken erweitern und überwachen: Organisationen sollten nicht nur Geschlecht und Hautfarbe erfassen, sondern auch andere Dimensionen wie Alter, physische Erscheinung oder sozioökonomischen Hintergrund systematisch aufzeichnen. Regelmäßige Audits können blinde Flecken in der Personalauswahl aufdecken.
Kontextspezifische Sensibilisierung: In Bereichen, in denen bestimmte Diskriminierungsformen besonders häufig sind (z. B. Attraktivitätsbias im Kundenservice), sollte gezielt darauf hingewiesen werden.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Da weniger saliente Diskriminierungsformen seltener erkannt und sanktioniert werden, sollten Antidiskriminierungsgesetze explizit auch Kategorien wie „physische Erscheinung“ oder „Alter“ einschließen – wie bereits in einigen Regionen geschehen.
Fazit
Die Studie zeigt eindrücklich: Unser Radar für Diskriminierung ist selektiv. Wir scannen Entscheidungen primär auf prototypische Faktoren wie Geschlecht und Hautfarbe. Andere Faktoren übersehen wir systematisch, selbst wenn sie genauso offensichtlich sind.
Besonders wichtig: Viele Menschen, die Attraktivitätsdiskriminierung ablehnen würden, bemerken sie schlicht nicht; nicht aus Gleichgültigkeit, sondern durch begrenzte Aufmerksamkeitskapazität.
Die gute Nachricht ist, dass dieser blinde Fleck überwindbar ist. Sobald Menschen auf die Verzerrung hingewiesen werden, ändern sie ihre Bewertungen drastisch. Die Diskriminierung wird plötzlich als genauso problematisch wahrgenommen wie andere Formen. Dies eröffnet praktische Ansatzpunkte, beispielsweise strukturierte Auswahlprozesse, erweiterte Awareness-Trainings und systematische Überprüfung von Entscheidungen auf verschiedene Diskriminierungsdimensionen können helfen, diese unbewussten blinden Flecken zu überwinden.
Die zentrale Erkenntnis ist dabei, dass Fairness mehr als gute Absichten erfordert. Sie verlangt bewusste Aufmerksamkeit, auch auf das, was normalerweise im Schatten liegt. Der erste Schritt zu mehr Gerechtigkeit ist oft der einfachste: Hinschauen.
Literatur
Jaeger, B., Paolacci, G., & Boegershausen, J. (2025). Social bias blind spots: Attractiveness bias is seemingly tolerated because people fail to notice the bias. Journal of Personality and Social Psychology, 129(6), 1037–1053.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Charlotte Wangemann.







