Dass von Menschen je nach ihrem Geschlecht eher Warmherzigkeit oder Durchsetzungsstärke erwartet wird, ist aus der Stereotypenforschung bekannt. Eine aktuelle Studie zeigt, dass viele vom Geschlecht auch auf den angeblichen Denkstil schließen, was weitreichende Folgen für die Karriere haben kann.
Eine im „Journal of Personality and Social Psychology“ erschienene Studie von Dr. Samantha Dodson und ihrem Team liefert anhand von sechs experimentellen Studien mit über 2.400 Teilnehmenden, einer Analyse von über 549.000 LinkedIn-Profilen sowie einer Meta-Analyse eine neue Erkenntnis: Geschlechterstereotype gehen über die klassischen Dimensionen „Warmherzigkeit“ und „Durchsetzungsstärke“ hinaus (Dodson et al., 2025).
Die Forschenden verbinden zwei theoretische Ansätze: Die Social Role Theory (Eagly, 1987) erklärt, wie Geschlechterrollen Erwartungen prägen. Die Construal-Level Theory (Trope & Liberman, 2010) beschreibt unterschiedliche kognitive Orientierungen. Ihrer These nach nehmen Menschen systematisch an, dass Frauen eher konkret und detailorientiert denken (low construal), Männer hingegen abstrakter und visionärer (high construal).
Theoretische Erklärung: Historische Rollenverteilung
Die Forschenden erklären diese Stereotype auf Basis der Social Role Theory. Frauen wurde historisch der Zugang zu Führungspositionen verwehrt, während sie überproportional in unterstützenden, administrativen Berufen, die Detailorientierung erfordern, arbeiteten. Auch im häuslichen Bereich übernehmen primär Frauen detailorientierte Care-Arbeit. Obwohl moderne Gesellschaften weniger geschlechtersegregiert sind, beeinflussen historische Geschlechterrollen weiterhin Stereotype und werden über Generationen durch Eltern, Medien und Arbeitsplatznormen weitergegeben. Diese beobachtbaren Verhaltensunterschiede führten laut Theorie zu Überzeugungen über unterschiedliche kognitive Neigungen (Dodson et al., 2025).
Zentrale Befunde im Detail
Es wurden mehrere Experimente durchgeführt. Fünf davon stellen wir Ihnen im Folgenden vor, wobei die Nummerierung der Experimente von jener in der Studie abweicht.
Studie 1: Implizite und explizite Assoziationen
Zur Messung unbewusster Assoziationen durchliefen 229 Teilnehmende den Implicit Association Test (IAT). Sie sollten möglichst schnell Begriffe und Namen kategorisieren. Teilnehmende waren schneller, wenn Frauennamen und konkrete Begriffe (wie „detailliert“, „spezifisch“) sowie Männernamen und abstrakte Begriffe (wie „big picture“, „allgemein“) auf derselben Taste lagen. Der Effekt war klein, aber statistisch signifikant. Aufgrund geringer statistischer Power ist der Befund jedoch mit Vorsicht zu genießen.
In der expliziten Befragung bewerteten Teilnehmende auf einer 7-Punkte-Skala, wie stark sie bestimmte Eigenschaften mit Männern vs. Frauen assoziieren. Die Assoziation von Frauen und Detailorientierung ist deutlich stärker als die von Männern und Big-Picture-Denken.
Diese Stereotype zur kognitiven Orientierung hingen nicht mit parallel gemessenen Warmth-, Competence- oder Agency-Stereotypen zusammen. Es handelt sich um eine eigenständige Dimension.
Studie 2 und 3: Konsistenz über Berufe
In Studie 2 (N = 150) beschrieben Teilnehmende den „typischen Mann“ und die „typische Frau“ auf einer bipolaren Skala von konkret bis abstrakt. Die typische Frau wurde als signifikant konkreter beschrieben als der typische Mann. Zudem wurden Frauen mehr als konkret denn als abstrakt beschrieben und Männer mehr als abstrakt denn als konkret.
In Studie 3 wurden diese Zuschreibungen an Frauen und Männer in 48 verschiedenen Berufen untersucht. In 45 von 48 Berufen wurde die typische Frau von den 601 Versuchspersonen als konkreter eingeschätzt als der typische Mann – unabhängig davon, ob der Beruf von Frauen oder Männern dominiert wird. Selbst in männerdominierten Bereichen wie Ingenieurwesen wurde die „typische Frau“ als detailorientierter wahrgenommen. Die Stereotype greifen berufsübergreifend und scheinen tief verankert.
Studie 4: LinkedIn-Analyse
Die Forschenden entwickelten ein validiertes Wörterbuch mit 38 konkreten und 45 abstrakten Begriffen. Auf diese Begriffe wurden die Empfehlungen in über 549.000 LinkedIn-Profile untersucht. Die Ergebnisse zeigen systematische Unterschiede:
| Frauen | Männer | |
| Konkrete Begriffe | 50% | 43% |
| Abstrakte Begriffe | 25% | 27% |
Diese Unterschiede blieben nach statistischer Kontrolle von Industrie, Beruf und Anzahl der Empfehlungen bestehen, was auf systematische Wahrnehmungsverzerrungen hindeutet.
Studie 5: Experimentelle Aufgabenzuteilung
841 Teilnehmende sollten als fiktive Manager eine Person für detailorientierte Zusatzaufgaben (z. B. Berichte einreichen, Korrekturlesen) auswählen, aus vier gleich qualifizierten Kandidat*innen unterschiedlichen Geschlechts und ethnischer Herkunft.
Die Stereotyp-Wahrnehmung wurde dabei gezielt aktiviert. Die Hälfte der Teilnehmenden las vorab einen Text, der behauptete, Forschung habe gezeigt, dass Frauen detailorientierter seien als Männer. In der Kontrollgruppe fehlte dieser Hinweis.
Bereits in der Kontrollbedingung wählten 68% eine Frau. Wenn die Forschenden das Stereotyp „Frauen sind konkret“ vorab aktivierten, stieg dieser Anteil auf 82%. Umgekehrt zeigte sich, dass beim Gegen-Stereotyp „Männer sind konkret“ die Auswahl von Frauen auf 44% sank.
Die Forschenden kontrollierten u. a. für Gewissenhaftigkeit und konnten so zeigen, dass Frauen nicht primär wegen ihrer vermuteten Gewissenhaftigkeit oder angenommenen mangelnden Karriereambitionen Detailaufgaben zugewiesen wurden, sondern wegen der spezifischen Erwartung, dass sie konkret denken. Die Befunde legen nahe, dass Construal-Level-Stereotype einen zusätzlichen Mechanismus darstellen, der zur ungleichen Aufgabenverteilung beitragen könnte. Mit möglicherweise weitreichenden Auswirkungen auf Karriereentwicklungen.
Methodische Stärken und Kritik
Stärken: Sechs von sieben Hauptstudien waren präregistriert. Die Effekte wurden konsistent über verschiedene Operationalisierungen repliziert (IAT, explizite Maße, reale Sprachdaten, experimentelle Manipulation). Die Meta-Analyse über 14 Studien ergab einen robusten mittleren Effekt.
Limitationen: Alle Studien wurden ausschließlich in den USA durchgeführt. Da Geschlechterstereotype stark kulturabhängig sind (Cuddy et al., 2015), bleibt unklar, ob die Befunde auf andere Kulturen übertragbar sind. Longitudinale Studien wären notwendig, um langfristige Karriereeffekte nachzuweisen.
Implikationen für die Praxis
Aufgabenverteilung strukturieren: Organisationen sollten transparent dokumentieren, wer welche Aufgabentypen erhält. Aufgaben wie Protokollführung oder Eventplanung, die nicht unmittelbar karriereförderlich sind, sollten rotierend vergeben werden, nicht nach impliziten Annahmen über „Passung“. Organisationen sollten auch systematisch erfassen, wer welche Art von Entwicklungsprojekten erhält, und in Talententwicklungsprogrammen aktiv darauf achten, Frauen auch abstrakt-strategische Projekte zuzutrauen.
Sprache auditieren: HR-Abteilungen könnten algorithmische Tools einsetzen, die Arbeitszeugnisse und Empfehlungsschreiben auf einseitige Betonung von Detail- vs. Strategiefähigkeiten prüfen. Führungskräfte sollten geschult werden, bei allen Mitarbeitenden sowohl operative als auch strategische Leistungen zu würdigen.
Bewusste Reflexion: Die Studie hat auch gezeigt, dass, wenn Entscheidende bewusst auf ihre Annahmen hingewiesen werden, sich das Auswahlverhalten drastisch verändert (bis zu 38 Prozentpunkte). Ein kurzer Reflexionsschritt vor Personalentscheidungen kann helfen.
Awareness-Trainings differenzieren: Neben klassischen Anti-Bias-Trainings sollten Organisationen explizit auf kognitive Stereotype hinweisen. Die gute Nachricht dabei: Sobald Menschen für diese Dimension sensibilisiert sind, können sie ihre Urteile korrigieren.
Fazit
Die Studie erweitert unser Verständnis von Geschlechterstereotypen erheblich. Sie zeigt, dass Diskriminierung auf mehr Ebenen relevant ist als bisher angenommen. Selbst wenn Organisationen bewusst auf die „Agency-Warmth-Balance“ achten, könnten sie übersehen, dass Frauen aufgrund von Construal-Level-Stereotypen häufiger detailorientierte Aufgaben zugeteilt bekommen, während Männern visionäre Rollen zugeschrieben werden.
Dieser Mechanismus läuft oft unbewusst ab. Nicht aus böser Absicht, sondern möglicherweise durch jahrzehntelange Beobachtung unterschiedlicher Rollenverteilungen. Menschen schließen daraus, oft ohne es zu merken, dass Frauen für Detailarbeit besonders geeignet sind. Diese Annahme wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Frauen werden detailorientierte Aufgaben zugeteilt, weil man glaubt, sie könnten das besonders gut. Dadurch verfestigt sich das Stereotyp weiter.
Für mehr Gerechtigkeit braucht es konkrete Maßnahmen wie eine systematische Erfassung der Aufgabenverteilung, bewusste Reflexion vor Personalentscheidungen und die Bereitschaft, Frauen aktiv auch strategische, visionäre Projekte zuzutrauen. Denn wer nur die Details sieht, übersieht möglicherweise das große Bild der Ungleichheit.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Charlotte Wangemann.







