„Ein klarer Purpose – eine Art Polarstern für die Orientierung in turbulenten Zeiten“
Wussten Sie, dass Purpose-gesteuerte Unternehmen leistungsfähiger und auch profitabler sind als klassisch organisierte Unternehmen? Wie Unternehmen ihren Purpose finden und sich danach ausrichten können, erläutern Franziska Fink (FF) und Michael Moeller (MM) im Interview – und klären dabei auch die Frage, ob Purpose-Steuerung wirklich für jedes Unternehmen das Richtige ist.
1. Was bedeutet Purpose eigentlich und was hat Ihr Interesse am Thema Purpose in Unternehmen entzündet?
FF: Purpose bedeutet „der innere Treiber“ oder „der höhere Sinn“. Das kann der Purpose einer Person sein oder der Purpose einer Organisation. Was will sie in die Welt bringen, wozu will sie beitragen, was will sie bewirken?
Das Thema Unternehmenspurpose beschäftigt uns schon seit 15 Jahren, weil es damals bereits in unseren Beratungsprojekten aufgetaucht ist. Seit die Komplexität für Unternehmen zunimmt und modernere Steuerungsinstrumente gefragt sind, ist Purpose ins Blickfeld gerückt. Mindestens genauso lang gehe ich schon mit Gruppen in die Berge zur persönlichen Purpose Quest. Auf 2.000 Metern können die Teilnehmenden dabei ihrem Why auf die Spur kommen und daraus Klarheit für nächste berufliche Schritte oder auch Neuanfänge ziehen. Ein toller Arbeitsplatz da oben!
Wir beide sind purpose driven people – vermutlich ein Lebensthema (grinst).
2. Was bedeutet es, wenn ein Unternehmen Purpose-gesteuert, also eine Purpose Driven Organization (PDO) ist?
MM: Kommunikation und Entscheidungen in Organisationen werden durch mehrere Arten von Prämissen beeinflusst. Da sind zum einen sogenannte Entscheidungsprogramme wie Ziele, Strategien, Erfolgskennzahlen, gesetzte Prioritäten. Der Purpose gehört auch in diese Kategorie – er ist in gewisser Weise das allem anderen übergeordnete Programm, an dem sich Entscheidungen orientieren. Im Alltag mag es nicht immer notwendig sein, sich bei Entscheidungen am Purpose zu orientieren, weil es viel konkretere Orientierungsprämissen gibt, wie eben Ziele oder konkrete Vereinbarungen, was jeweils zu tun ist. Aber diese sollten sich in jedem Fall am Purpose orientieren. Man könnte sich durchaus öfter mal fragen, was trägt dieses Ziel oder Vorhaben zur Erreichung unseres Purpose wirklich bei? Und was könnte zusätzlich hilfreich sein zu tun, um Richtung Purpose weiterzukommen?
Corona hat uns allen aber auch einen anderen Aspekt von purpose-orientierter Steuerung nähergebracht: Unter hoher Komplexität oder auch in Krisen taugen die bestehenden Strategien, Pläne oder anderen Vorgaben oft nicht mehr für die Steuerung und als Orientierung für Entscheidungen, weil sie unter diesen Umständen oft innerhalb kürzester Zeit obsolet, unrealistisch oder unzureichend werden. Was liefert dann noch Orientierung? In jedem Fall ein klarer Purpose – eine Art Polarstern für die Orientierung in turbulenten Zeiten.
3. Warum sollte man Purpose in Unternehmen anstreben – und was spricht vielleicht dagegen? Gibt es auch Unternehmen, für die sich Purpose nicht eignet?
MM: Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, das PDOs leistungsfähiger und auch profitabler sind als klassisch organisierte Unternehmen. Das gilt vor allem, wenn man es mit komplexen und volatilen Umfeldern zu tun hat, die eine laufende Anpassung z. B. an Kundenbedürfnisse, Marktsituationen oder Innovationen erfordern. Gleichzeitig nimmt der Druck von Personalseite enorm zu. Viele Organisationen machen sich auf den Weg zur PDO, weil immer mehr Menschen nur noch als Mitarbeitende zu gewinnen und zu binden sind, wenn sie ihre Arbeit als sinnstiftend erleben, Gestaltungsmöglichkeiten haben und in einem kooperativen und vertrauensvollen Umfeld agieren können.
Das letztere gilt vermutlich für fast alle Organisationen – entweder schon heute oder in naher Zukunft. Der Trend ist hier eindeutig. Insofern macht Purpose für alle Sinn. Was aber nicht für alle gleich ist, ist das Ausmaß an Komplexität und Dynamik, mit dem sie zurechtkommen müssen. Auch nicht alle Bereiche einer Organisation brauchen ein extrem hohes Maß an Anpassungsfähigkeit. Wo es vor allem um Standardisierung, effiziente Abläufe und Sicherheit geht, ist die auf ständiges Lernen, Erproben und Anpassen ausgerichtete Organisationsform einer PDO weniger hilfreich als klassische Organisations- und Führungsmodelle.
Sich auf den Weg zur PDO zu machen, bedeutet auch eine Entscheidung zu treffen, was im Zweifel Vorrang hat: der Purpose oder der Profit. Wo es letzten Endes dann doch um Profitmaximierung geht, greift Purpose ins Leere, wird er zum Deckmäntelchen. Das spürt man in der Organisation schnell, wenn Entscheidungen letztlich doch nach ökonomischen Kriterien getroffen werden, statt nach ihrem Beitrag zum Purpose, der über diese hinausgeht.
4. Wie findet ein Unternehmen seinen Purpose heraus?
FF: Die gute Nachricht zuerst: Es gibt den Purpose schon. Man muss ihn nicht erfinden oder entwickeln. Einen Purpose herausfinden heißt also, ihn herauszuschälen. Anhaltspunkte dafür geben die Unternehmensgeschichte, der Gründungszweck, Geschichten, die aus dieser Pionierzeit erzählt werden. Auch die Werte der Organisation, die Identität, starke Prinzipien oder Leitbilder geben Hinweise auf Purpose. Und dann sind es natürlich auch die aktuellen Mitarbeitenden und Kund:innen, von denen man viel über Purpose erfahren kann.
Wenn wir Unternehmen begleiten, dann wählen wir jeweils die Art der „Purpose Quest“, die passend ist. „One fits all“ funktioniert nicht, weil es zur Kultur der Firma passen muss. Ich zum Beispiel mache sehr gern Bottom-up-Prozesse. Dabei werden alle Mitarbeitenden über niederschwellige Tools eingeladen ihre Geschichte zu erzählen. Zum Beispiel: „Wann war ich besonders stolz hier zu arbeiten?“ oder „Warum sollte es uns in 100 Jahren noch geben?“. Diese Geschichten werden analysiert und verdichtet. Ein Querschnittsteam aus Vertreter:innen aller Bereiche und Hierarchien trifft sich dann zur Purpose Quest, wo sie aus der Essenz der Geschichten ein Statement formulieren.
Der Heizungshersteller Viessmann hat beispielsweise seinen 11.000 Mitarbeitenden die Frage gestellt „Warum sollte es uns in 100 Jahren noch geben?“ und ist seit kurzem ein Purpose Unternehmen. Die Formulierung des Purpose hat hier eine Transformation der Struktur und Zusammenarbeit und damit auch der Kultur eingeläutet. Der Urenkel des Gründers wurde neuer CEO. Als Unternehmen, das mit Heizungs- und Kühlgeräten einen Löwenanteil zum CO2-Ausstoß beiträgt, war für ihn klar, dass er diese Sinnfrage stellen muss. Eine Keyword-Analyse der Antworten ergab den Satz: „Wir gestalten Lebensräume für zukünftige Generationen“. Und der ist nun Trigger für Entwicklung, denn die Produktpalette kann nicht von heute auf morgen gekippt werden. Die Forschung und Entwicklung bei Viessmann arbeitet nun an Hybrid-Geräten und an emissionslosen Heiz- und Kühlungen. Bei jeder Investition oder Beteiligung wird der Purpose befragt. Das führt dazu, dass Viessmann mittlerweile in Vertical Farming eingestiegen ist – die Landwirtschaft unserer Zukunft, die urban in Städten und statt auf großer Fläche in der Vertikalen stattfinden wird.
Es gibt noch viele andere Methoden, um Purpose herauszuschälen. Wichtig dabei finde ich die Einsicht: Es geht niemals um den Satz, der am Ende dasteht. Der Dialogprozess, der dorthin führt, hat die eigentlich Bedeutung. Nur wer hier beteiligt war, für den ist der Satz aufgeladen mit Bedeutung und Sinn und hat Gänsehauteffekt. Deshalb funktionieren Purpose Statements, die im Vorstand oder von Marketingagenturen entwickelt wurden, auch nie im Unternehmen.
5. Wenn man den Purpose gefunden und das Unternehmen darauf ausgerichtet hat: Wie findet man dann geeignetes Personal?
FF: Das Personal ist ja in den meisten Fällen schon da und hat mitgeholfen, den Purpose herauszuschälen. Wenn ich Purpose dann wirklich zur Steuerung nutze, übersetze ich ihn auch in die Personalprozesse. Welche (neuen) Kompetenzen fordert dieser Purpose von uns? Welche Entwicklungsformate biete ich dafür an? Wie passe ich das Recruiting, das Onboarding, die Personalentwicklung, die Führungsentwicklung, die Jahresgespräche etc. an das Why an. Im Recruiting setzen die meisten Purpose Unternehmen mehr auf „Purpose Fit“ als auf „Skill Fit“. Das heißt, gesucht werden Bewerber:innen, die zur Kultur und zum Why des Unternehmens passen, denn daraus entstehen Energie und Motivation. Skills kann man lernen, aber diese Passung lässt sich nicht künstlich herstellen. Wie ein Draht – er ist da oder eben nicht.
6. Was sind mögliche Fallstricke für PDOs und wie kann man mit ihnen umgehen?
MM: Was wir immer wieder erleben, ist die Annahme, mit dem Herausarbeiten und Hereinbringen eines klaren Purpose ins Unternehmen sei es schon getan. Aber das ist erst der Anfang. Will man wirklich eine Organisation, die auch mit hoher Komplexität und Dynamik zurechtkommt, muss man Steuerungsmethoden, Organisationsformen und Rollen, Entscheidungsverfahren und Personalsysteme anpassen und weiterentwickeln. Das bedeutet im ersten Schritt meist: Ausmisten! Enge Regeln und Vorschriften, Anweisungen oder Kennzahlensysteme stehen oft dem Purpose im Weg.
Es geht um das Schaffen von Autonomie und Freiräumen für Mitarbeitende und Teams. Das stärkere Verteilen von Autorität ist etwas, mit dem viele Unternehmen und auch Führungskräfte sich erst anfreunden müssen.
Die Frage ist: Haben wir wirklich die Bereitschaft loszulassen? Die Verteilung von Entscheidungsautorität zu thematisieren und sich intensiv mit Fragen von Macht und Vertrauen auseinanderzusetzen, kommt immer wieder zu kurz.
Die Mitarbeitenden haben in der Selbstorganisation ein viel größeres Gewicht und Einfluss. Sie müssen sich mit dem Purpose identifizieren können und die Gestaltungsmöglichkeiten aktiv nutzen. Wer lange in klassischen Strukturen eingepfercht war, braucht oft eine Weile, um darauf zu vertrauen, dass in der neuen Organisationsform nun gefragt ist, was vorher möglicherweise unerwünscht war. Purpose Steuerung fordert von Mitarbeitenden viel Engagement. Die Organisation muss sie entsprechend fördern, dort hineinzuwachsen.
7. Welche bekannten Unternehmen sind neben Viessmann bereits Purpose-gesteuert?
FF: Das ist eine gute Frage! Wenn Sie in den Markt schauen, dann ist da eine Fülle von Unternehmen mit Purpose. Die Forschung zeigt, dass die meisten Unternehmen ihren Purpose nur als Kultur- und Motivationsfaktor nutzen. Ein kleinerer Teil übersetzt ihn auch konsequent in die Steuerung und richtet Entscheidungen daran aus.
Die Firma Ökofrost in Berlin gehört beispielsweise zu den Vorreitern für Purpose Steuerung. „Gesunde Entwicklung durch gesunde LEBENSmittel.“ Um die Organisation hat sich ein ganzes Ökosystem entwickelt, die SinnBiose, mit Organisationen, die ähnliches bewirken wollen und unter diesem Shared Purpose kooperieren.
dm Drogeriemarkt ist ein Unternehmen, das schon seit Jahrzehnten die Entscheidungen und auch die Struktur dem höheren Sinn unterordnet. Und wer hätte gedacht, dass sich hinter der größten deutschen Drogeriekette folgender Purpose versteckt: »Wir schaffen einen sozialen Organismus, in dem Menschen ihre Potenziale entfalten und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten können.“
Sie sehen, Purpose bringt mich ins Reden (lacht). Danke für Ihre inspirierenden Fragen!
Vielen Dank für das Gespräch!
Wir sprachen mit:
Franziska Fink und Michael Moeller sind beide Partner der Beratergruppe Neuwaldegg in Wien. Sie begleiten internationale Unternehmen in Veränderungs- und Transformationsprozessen. Die beiden arbeiten nicht nur zum Thema Purpose in Unternehmen, sie forschen auch dazu. Mit ihren Büchern zu Purpose Driven Organizations haben sie ein Framework geschaffen, wie Unternehmen in komplexen Umfeldern Sinn zur Steuerung nutzen. Die beiden waren die ersten, die das Modethema Purpose auf den Boden des Business gebracht haben.
Zum Weiterlesen:
[Werbung] Fink, F., Moeller, M. (2022). Playbook Purpose Driven Organizations. Der Navigator für Purpose Drive in Ihrem Unternehmen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag.
[Werbung] Fink, F., Moeller, M. (2018). Purpose Driven Organizations. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag.
(Interview: Anja Wermann, Redaktion WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE aktuell)