Fördert Bürochaos die Kreativität?

Was ist dran am Mythos vom kreativen Chaos? Kann man durch das täglich neu arrangierte Wirrwarr von Merkzetteln, Prospekten, Briefen, Grafiken, Textentwürfen, Fotos und Schreibutensilien das Gehirn stimulieren und ungewöhnliche Gedankenketten in Gang setzen?

Generell gilt eine anregende Umgebung mit vielen Wahrnehmungsimpulsen und vielseitigen Informationsangeboten als Element einer kreativitätsfreundlichen Atmosphäre (Preiser & Buchholz, 2008): Vielfaltige Impulse durch Informationsmaterialien, anregende Gespräche, Geräusche und Gerüche aus der Natur, visuelle Reize von Postern und eben auch vom überbordenden Schreibtisch können verschiedene Hirnregionen simultan stimulieren und dazu beitragen, Gedankensplitter und Gedächtnisspuren aus verschiedenen Sinnesmodalitäten und Wissensbereichen miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn dann die vielfältigen Assoziationen strukturiert verarbeitet werden, können tatsächlich kreative Gedankengänge entstehen.

Mehr Effektivität durch Clean-Desk-Policy

Aber Vorsicht: Das Bürochaos mag in besonderen Momenten zwar neue Ideen stimulieren, dafür jedoch nimmt man zeitraubende Such- und Wühlaktionen, verloren gegangene Informationen, versäumte Termine und verärgerte Kolleg*innen in Kauf. Fachleute für Arbeitstechnik, Schreibtischorganisation und Selbstmanagement versprechen eine Effektivitätssteigerung um bis zu 20 % durch aufgeräumte Buros, wie sie etwa aufgrund einer Clean-Desk-Policy, einer unternehmensinternen Verpflichtung zum Aufräumen, entstehen.

Das Gehirn schafft sich seine Ordnung

Was nur pedantische Menschen freiwillig und ständig mit ihrem Schreibtisch machen, erledigt unser Gehirn spontan mit unseren Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen und Fantasien: strukturieren und kategorisieren und dabei vereinheitlichen und vereinfachen. Logische Widersprüche und Dissonanzen werden harmonisiert, Unpassendes wird ignoriert oder bagatellisiert. So konstruiert das Gehirn Ordnung in unserer Gedankenwelt. Nur wenn neuartige Informationen unsere Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und als bedeutsam wahrgenommen werden, werden unsere inneren Abbilder der Realität modifiziert und angepasst.

Kognitive Sackgassen

Perfekt organisiertes Wissen bietet viele Vorteile: Wie in einem aufgeräumten Werkzeugkasten findet man schnell, was man braucht, und kann es in systematischer Weise nutzen. Man kann zielgerichtet handeln, ohne ständig aufgehalten oder abgelenkt zu werden. Allerdings bringen das ständig aufräumende Gehirn und die kognitive Ordnung auch Risiken mit sich: Unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis reduzieren die Komplexität der Realität. Bei Routineaufgaben erleichtern uns Standardisierungen und Vereinfachungen das schnelle Reagieren, bei ungewöhnlichen Problemstellungen landen wir allerdings oft bei gewohnten Gedankengängen und in kognitiven Sackgassen (vgl. Preiser, 2017).

Konventionelle Strukturen durchbrechen

Unser Gehirn ist aber nicht nur ein Ordnungsfanatiker. Wir können Verknüpfungen zwischen verschiedenen Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalten herstellen. Kleine Kinder und erwachsene Synästhetiker*innen verbinden sogar verschiedene Sinnesmodalitäten so intensiv miteinander, dass sie diese nicht mehr auseinanderhalten können. Sie sehen z. B. Ziffern in einer bestimmten Farbe.
Kreative Problemlösungen sind umso überraschender und faszinierender, je mehr konventionelle Strukturen durchbrochen werden – um dann wieder in einer neuen Ordnung zu münden.

Es geht also bei der Kreativitätsförderung darum, Wahrnehmungen und Erinnerungen zu differenzieren, sich unfertige Ideen zu erlauben, ungewöhnliche gedankliche Verknüpfungen zu fördern und verschiedene Wissensgebiete assoziativ miteinander in Beziehung zu setzen. Dafür haben sich Kreativitätsforscher*innen und -trainer*innen nicht nur das Konzept des chaotischen Schreibtischs, sondern viele weitere Anregungen und Tipps einfallen lassen: freie Assoziationen zulassen, Zufallseffekte provozieren, verschiedene Sinnesmodalitäten verknüpfen, Analogien, Metaphern oder bildliche Darstellungen mit einem aktuellen Problem in Beziehung setzen oder mit einer grünen Farbfläche „alles im grünen Bereich“ bzw. „freie Fahrt“ signalisieren.

Aufgeschlossene Grundhaltung

Dennoch wäre es naiv, zur Förderung der Kreativität Büros grün anzustreichen, wie in der Managementkultur bisweilen gefordert wurde. Eine grüne Farbfläche oder auch angenehme Hintergrundmusik mögen zur Entspannung beitragen und auf diese Weise stressbedingten Denk- und Kreativitätsblockaden entgegenwirken. Aber solche Wahrnehmungsinhalte verblassen durch Adaptation und verlieren ihre aktivierende Funktion, verschiedene Wissens- und Erlebnisbereiche assoziativ miteinander zu verknüpfen. Entscheidender ist vielmehr, eine aufgeschlossene Grundhaltung zur Problembearbeitung zu fördern.

Hand mit Farbrolle, die eine  Wand in Grün streicht.

Anstatt Büros zur Förderung der Kreativität grün anzustreichen, sollte eine aufgeschlossene Grundhaltung zur Problembearbeitung gefördert werden. (Ksenia Chenaya / Pexels.com)

Gedanklichen Widersprüchen nicht ausweichen

Es ist nicht der vermüllte Arbeitsplatz als solcher, der kreative Gedankengänge fördert (und systematisches Arbeiten behindert); entscheidend ist die Vielfalt der Informationen, Sinneseindrücke und Erinnerungen, die viele Gehirnareale stimuliert, miteinander vernetzt und so neuartige gedankliche Konstellationen ermöglicht. Zudem gibt es auch Wissenschafts- oder Kunstschaffende, die einen ablenkungsfreien Raum brauchen, um kreativ zu sein: eine leere Seite auf dem Papier, vielleicht nur ein Datenblatt mit überraschenden Ergebnissen. Wer gedanklichen Widersprüchen nicht ausweicht, sondern sie zu integrieren sucht, wer den eigenen Erfahrungs- und Erinnerungshorizont in alle Richtungen absucht und aktiviert, ohne durch umherschweifende Gedanken oder kognitive Umwege die eigentliche Problemstellung aus dem Auge zu verlieren, braucht keine äußere Stimulation, um die Gedanken auf kreative Reisen zu schicken.

Freiräume für Denkprozesse

Ob der Arbeitsprozess eher durch vereinfachende Ordnung oder ausufernde Vielfalt begünstigt wird, hängt von der jeweiligen Aufgabenstellung und dem persönlichen Arbeitsstil ab. Und so ist auch eine einheitlich verordnete aufgeräumte Arbeitsumgebung nicht per se problematisch und kann für viele Menschen den Arbeitsalltag effektiver machen. Wichtiger ist es, den Mitarbeiter*innen Freiräume für die persönliche Gestaltung ihres Arbeitsprozesses und vor allem ihrer Denkprozesse zu lassen. Auch bei einem aufgeräumten Schreibtisch können wir so auf kreativitätsförderliche Selbstgestaltungskräfte hoffen.

Kreativität trotz aufgeräumtem Schreibtisch

Wer die Nachteile eines vermüllten Arbeitsplatzes vermeiden mochte, kann sich trotzdem eine anregungsreiche und stimulierende Arbeitsumgebung schaffen: So können zum Beispiel Postkarten, Zeitschriften oder Bildbände aus der Schublade, Landschaftsfotos auf dem Bildschirm oder der Blick aus dem Fenster genutzt werden, um verschiedene Gehirnareale zu aktivieren und für unkonventionelle Gedankengänge bereit zu machen (vgl. Preiser, 2016). Auch eine gedankliche Fantasiereise, Erinnerungen an Landschaften, Filmszenen, Gerüche oder interessante Gespräche können das innere Informationsnetz erweitern. Ebenso können Gedankenketten, die immer wieder in Sackgassen führen, bewusst unterbrochen werden, können Pausen gemacht oder es kann Ablenkung gesucht werden, um den eigenen Arbeitsspeicher von Irrwegen und Denkfehlern zu befreien und einen gedanklichen Neustart zu ermöglichen.

Literatur:

Preiser, S. (2016). Kreativität stimulieren. Report Psychologie, 41 (2), 50–51.

Preiser, S. (2017). Origineller und faszinierender: Ist Bürochaos gut für die Kreativität? Forschung und Lehre, 12/17, 902–903.

Preiser, S. & Buchholz, N. (2008). Kreativität. Ein Trainingsprogramm für Alltag und Beruf (3. Aufl.). Heidelberg: Asanger.