Kein Auswahlverfahren bei wenigen Bewerbungen? – Falsch gedacht!
Eine valide Eignungsdiagnostik gewährleistet, dass Unternehmen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ihre Stellen mit fähigen Mitarbeitenden besetzen. Doch lohnen sich aufwendige Auswahlverfahren auch, wenn sich nur wenige Personen auf eine Position beworben haben?
„Auswahlverfahren ergeben wenig Sinn, wenn es sowieso zu wenige Bewerbungen gibt.“ So argumentieren Arbeitgeber in der Praxis häufig. Das ist allerdings ein Trugschluss, auch wenn die Idee dahinter naheliegend ist: Man ist froh, überhaupt halbwegs passende Bewerbungen zu erhalten, und möchte die Kosten für ein aufwendigeres Vorgehen sparen. Aber warum geht diese Logik in der Praxis nicht auf?
Auswirkungen weniger Bewerbungen auf den Auswahlprozess
Für diese Betrachtung machen wir einen Ausflug in die Statistik. Über die Taylor-Russel-Tafeln (Taylor & Russel, 1939) können wir Fehlerwahrscheinlichkeiten von Entscheidungen abbilden. Schauen wir uns einmal an, was in einem Auswahlprozess bei weniger Bewerbungen passiert, wenn die anderen Faktoren stabil bleiben.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Qualität der Bewerbungen vorerst gleichbleibt und nur die Menge abnimmt. Zur Berechnung benötigen wir drei Werte: Grundquote, Auswahlquote und Validität.
Die Qualität der Bewerbungen wird über die Grundquote erfasst, die angibt, wie viele geeignete Menschen sich in einem Bewerbungsstapel befinden. Je geringer diese Quote ist, desto wichtiger ist gute Diagnostik. Denn wenn tatsächlich sowieso alle Bewerbenden irgendwie passen, dann brauchen wir auch keine Eignungsdiagnostik, sondern können auch zufällig auswählen. Wenn aber nur wenige geeignet sind, brauchen wir einen guten Detektor, um sie aufzuspüren.
In der Auswahlquote spiegelt sich das Verhältnis zwischen zu besetzenden Positionen und Bewerbungsmenge wider. Diese Quote wird in unserem Beispiel höher, weil wir gemäß unserem Beispiel mehr Personen aus weniger Bewerbenden auswählen.
Die Validität des Bewerbungsprozesses ist abhängig von den jeweils eingesetzten Auswahlverfahren und beschreibt die Güte des Auswahlprozesses. Unstrukturierte Interviews haben z. B. eine geringere Validität als strukturierte Interviews (Sackett et al, 2022).
Ein Berechnungsbeispiel:
Grundquote: 40% der Bewerbenden haben eine grundsätzliche Eignung für den Job.
Validität: Das aktuelle Auswahlverfahren (strukturiertes Einstellungsinterview) hat eine Validität von ca. r = 0.4.
Auswahlquote: Gehen wir zunächst von einer Auswahlquote von 10% aus (also 1 von 10 Bewerbenden).
Es ergeben sich aus den Taylor-Russel-Tafeln die folgenden Wahrscheinlichkeiten: Zu 69% wählen wir geeignete Bewerbende aus, zu 31% unpassende.

Abbildung 1: Ausgangslage (Grundquote 40%, Auswahlquote 10%, r = 0.4)
Wenn am Bewerbungsprozess nichts geändert wird und nur weniger Bewerbende vorhanden sind, werden die Auswahlprozesse automatisch schlechter. Wenn die Anzahl an Bewerbungen sinkt, steigt die Auswahlquote. Zum Beispiel erhalten wir mit aktuell nur noch 5 Bewerbungen eine Auswahlquote von 20%. Das ist in diesem Beispiel noch positiv dargestellt, da wir in der Realität davon ausgehen würden, dass die Grundquote, also die Qualität der Bewerbungen parallel rückläufig ist.

Abbildung 2: Stand mit weniger Bewerbungen (Grundquote = 40%, Auswahlquote 20%, r = 0.4)
Wenn wir jetzt der im ersten Moment naheliegenden Schlussfolgerung nachgehen, nämlich an der Eignungsdiagnostik sparen und einfach so entscheiden, dann reduziert sich die Validität drastisch (zum Beispiel auf ca. r = 0.2 für das unstrukturierte Interview). In diesem Beispiel stellen wir genauso viele falsche wie richtige Personen ein.

Abbildung 3: Stand mit 5 Bewerbungen und ohne gute Eignungsdiagnostik (r = 0.2)
Die bessere Entscheidung wäre, die Qualität der Auswahlprozesse zu verbessern, gerade wenn die Menge an Bewerbungen zurückgeht. Gute Validität haben Auswahlstrategien, die mehrere Methoden kombinieren, z. B. strukturierte Interviews und valide Personaltests (Van Iddekinge et. al, 2023) Nur so kann der Auswahlprozess insgesamt eine hohe Qualität erhalten, auch wenn die Anzahl der Bewerbungen niedrig ausfällt. Bei einer Validität des Auswahlverfahrens von r = 0.55 ergibt sich die in Abbildung 4 dargestellte Verteilung.

Abbildung 4: Stand mit 5 Bewerbungen mit guter Eignungsdiagnostik (r = 0.55)
Eine andere Möglichkeit wäre, die Grundquote zu erhöhen, also nur Menschen anzusprechen, die grundsätzlich besser geeignet sind. Diese Maßnahmen bewegen sich dann im Bereich Personalmarketing. Dabei muss aber sichergestellt werden, dass sich durch die höhere Menge nicht die Grundquote verschlechtert, sonst haben wir denselben Effekt wie bei weniger Bewerbungen. Wir müssten also systematisch besser qualifizierte Menschen ansprechen, was ohne Eignungsdiagnostik nicht einfach umzusetzen ist.
Es gibt nicht nur eine Art von Fehler
Spannend ist zusätzlich, sich klarzumachen, dass es nicht nur eine Art von Fehler gibt. Die oberen Beispiele bezogen sich alle auf dieselbe Art von Fehlentscheidung, nämlich, dass eine unpassende Person ausgewählt wird. Dies ist der sogenannte Alpha-Fehler. Diesen zu vermeiden, bedeutet, passende Personen auszuwählen und unpassende Personen nicht auszuwählen.
Es gibt aber noch eine zweite Art von Fehler, den Beta-Fehler. Gerade wenn es wenig geeignete Bewerbende gibt, können zusätzlich auch noch passende Personen nicht ausgewählt, also übersehen werden.
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Alpha-Fehler = Eine unpassende Person wird ausgewählt
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Beta-Fehler = Eine passende Person wird nicht ausgewählt
Je weniger gut die Bewerbungen allgemein sind, desto relevanter wird dieser Fehler. Eine gute Eignungsdiagnostik kann auch diesen Fehler vermindern. Denn Menschen mit Potenzialen zu übersehen, ist ein Fehler, den wir uns insbesondere bei wenigen Bewerbungen nicht erlauben sollten.
Fazit
Gerade wenn wir wenig geeignete Bewerbungen haben, ist es umso wichtiger, auf präzise und fundierte Eignungsdiagnostik zu setzen. Das hat zwei entscheidende Vorteile:
- Mit guter Eignungsdiagnostik können wir auch bei geringerer Bewerber*innenanzahl das Risiko für Fehleinstellungen vermindern.
- Mit guter Eignungsdiagnostik können wir Potenziale entdecken. Sonst können gerade diese wenigen Talente mit einer hohen Wahrscheinlichkeit übersehen werden.
Gute, valide eignungsdiagnostische Prozesse orientieren sich an der DIN 33430 (2016).
Literatur
DIN (2016). DIN 33430: Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik. Berlin: Beuth.
Sackett, P. R., Zhang, C., Berry, C. M., & Lievens, F. (2022). Revisiting meta-analytic estimates of validity in personnel selection: Addressing systematic overcorrection for restriction of range. Journal of Applied Psychology, 107(11), 2040.
Taylor, H. C., & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. Journal of applied psychology, 23(5), 565.
Van Iddekinge, C. H., Lievens, F., & Sackett, P. R. (2023). Personnel selection: A review of ways to maximize validity, diversity, and the applicant experience. Personnel psychology, 76(2), 651-686.