"Berufserfolg hängt stark von der sozialen Herkunft ab"

Die soziale Herkunft stellt die Weichen für schulischen und beruflichen Erfolg. Menschen aus finanzschwachen oder nichtakademischen Familien haben es in ihrem beruflichen Werdegang häufig schwerer. Natalya Nepomnyashcha erzählt uns im Interview, was sie dazu bewogen hat, ein Netzwerk für soziale Aufsteiger*innen zu gründen und warum es sich lohnt, ungeraden Lebensläufen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. 

Mit welchen Hürden haben junge Menschen aus unteren sozialen Schichten zu kämpfen?  

Die Hürden sind vielfältig und ziehen sich oft durch die gesamte berufliche Laufbahn. Das fängt schon im Kindergarten an und setzt sich in der Schule fort. Kindern aus finanzschwachen Familien stehen viel weniger Mittel zur Verfügung. Haben die Eltern einen Migrationshintergrund, kommt oft noch eine Sprachbarriere dazu. Und manchmal haben die Eltern einfach keine Zeit oder keine Mittel, um sich für die Bildungschancen ihrer Kinder einzusetzen. Das alles führt zu weniger Teilhabe und zu weniger Möglichkeiten. In der Ausbildung steht für diese jungen Menschen oft weniger Unterstützung aus dem Elternhaus zur Verfügung. Das baut Druck auf, kann Wege versperren und zu Doppelbelastungen führen, wenn die Ausbildung mit Nebenjobs finanziert werden muss. Aufsteiger*innen können in der Regel nicht von Netzwerken ihrer Eltern profitieren und bewegen sich oft in einem Umfeld, für das die eigenen Eltern wenig Verständnis haben, weil es ihnen fremd ist. Diese Spannungsfelder zu navigieren, ist eine Herausforderung.   

Sie sind Gründerin des „Netzwerk Chancen“. Was ist das für eine Initiative und was hat Sie dazu bewogen, diese ins Leben zu rufen?

In Deutschland hängen beruflicher und schulischer Erfolg immer noch stark von der sozialen Herkunft ab. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, Karriere zu machen, wenn man aus einer Hartz-IV-Familie kommt: Als ich 2001 mit meinen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland kam, habe ich kein Wort Deutsch gesprochen. Nach 1,5 Jahren in einer Übergangsklasse bekam ich eine Realschulempfehlung. Ich habe dann schnell Deutsch gelernt und in der 9. Klasse hatte ich einen Schnitt von 1,3 geschafft. Da wollte ich aufs Gymnasium wechseln. Aber als ich mich bei einem Augsburger Gymnasium vorgestellt habe, hat mich der Konrektor ausgelacht. Er sagte zu mir: „Wenn Sie aufs Gymnasium gehören würden, wären Sie schon auf einem” und hat mich wieder weggeschickt. Ich habe nie Abitur gemacht, dafür aber zwei schulische Ausbildungen abgeschlossen. Eine davon wurde in Großbritannien als ein Bachelor-Abschluss anerkannt und hat es mir ermöglicht, dort einen Masterabschluss zu erlangen. In Deutschland wäre das so nicht möglich gewesen. Kein Abitur, keine akademische Ausbildung - so ist das meistens.  
 
Es gibt zu viele Hürden, an denen Menschen wie ich scheitern, einfach, weil man uns gar nicht erst erlauben will, sie zu überwinden. An dieser Situation wollte ich etwas ändern. Deshalb habe ich 2016 „Netzwerk Chancen“ gegründet. Wir sind ein soziales Start-up, das sich für Aufstiegschancen und ein chancengleiches Bildungssystem einsetzt.

An wen wendet sich „Netzwerk Chancen“?

Wir unterstützen junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren, die aus finanzschwachen oder nichtakademischen Familien kommen, bei ihrem sozialen Aufstieg und ihrer beruflichen Entwicklung. Für die Aufsteiger*innen sind wir ein Netzwerk und eine Förderplattform. Wir bieten ihnen Workshops, Coachings, Kontakte zu Arbeitgebenden sowie ein Mentoring-Programm an.   
 
Wir wollen die Unterstützung sein, die Aufsteiger*innen sonst oft fehlt. Entweder, weil sie in ihrem sozialen Umfeld und im Elternhaus nicht vorhanden ist, weil es Sprachbarrieren gibt oder die Perspektiven fehlen. Unser Netzwerk zählt inzwischen über 1.100 Aufsteiger*innen, die sich austauschen, vernetzen und einander unterstützen.   
  
Gleichzeitig sind wir Vorreiter*innen im Dialog für mehr soziale Diversität und setzen uns dafür ein, dass Unternehmen und Organisationen anstreben, auf allen Ebenen sozial divers zu werden, also Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu beschäftigen.  

Mann von hinten, der einen Treppe hinaus steigt.

Die soziale Herkunft hat einen erheblichen Einfluss auf Bildungs- und Berufsbiographien. (Foto: Ryoji Iwata / unsplash.com)

Wie unterstützen und vernetzen Sie Arbeitsuchende und Arbeitgebende?

Wir organisieren Netzwerkveranstaltungen, die es Aufsteiger*innen und Unternehmen ermöglichen, ins Gespräch zu kommen. Außerdem beteiligen sich Unternehmen an unserem Tandem-Programm und stellen Mentor*innen zur Verfügung. Und wir stehen als Ansprechpartner*innen und Vermittler*innen für beide Seiten zur Verfügung.   

Wie profitieren Unternehmen speziell von sozialen Aufsteiger*innen?

Soziale Aufsteiger*innen zeichnen sich oft durch Hartnäckigkeit, Fleiß und Durchsetzungsvermögen aus. Sie sind erfolgreich in einem System, in dem ihr Erfolg nicht vorgesehen ist. Unternehmen können von ihrem Einsatz und ihrer Durchsetzungsfähigkeit profitieren - aber auch von ihren besonderen Perspektiven und Erfahrungen, die sie aufgrund ihrer Aufstiegsbiografie mitbringen.   

Haben Sie ein paar ganz konkrete Tipps, was Unternehmen tun können, um Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft entgegenzuwirken?

Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Schulung von Führungskräften und Personaler*innen. Wir haben alle unbewusste Vorurteile. Uns sind Menschen sympathisch, die uns ähnlich sind. Das bedeutet konkret: Wenn die Personalentscheider*innen aus der Mittel- oder Oberschicht kommen, sind ihnen tendenziell (unterbewusst) auch Menschen aus diesen sozialen Schichten sympathischer, die sich vielleicht ähnlich ausdrücken, an derselben Hochschule studiert haben oder einen ähnlichen Weg gegangen sind. Hier braucht es Schulungen, um Personalentscheider*innen zu helfen, ihre unbewussten Vorurteile zu erkennen und zu hinterfragen.  
  
Im Bewerbungsprozess kann man außerdem darauf achten, dass ungerade Lebensläufe nicht von vornherein ein Ausschlusskriterium sind. Es kann helfen, sich ganz bewusst dafür zu entscheiden, dass ungewöhnliche Ausbildungshistorien ein Team bereichern können. Außerdem macht es Sinn, firmeninterne Netzwerke für Aufsteiger*innen zu gründen. Das schafft einen vertrauensvollen Rahmen, in dem sich Aufsteiger*innen untereinander über ihre Erfahrungen austauschen können. Und es ist wichtig, dass Führungskräfte offen für Feedback sind und das aktiv kommunizieren und leben. So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Diskriminierungserfahrungen angesprochen werden und möglichst selten vorkommen.