Als Führungskraft kulturelle Vielfalt navigieren

Die Internationalisierung der Arbeitswelt hat dazu geführt, dass Führungskräfte häufig Teams leiten, deren Mitglieder aus verschiedenen Ländern kommen, in verschiedenen Ländern gelebt haben und unterschiedliche Erstsprachen sprechen. Das kann verunsichern. Muss ich als Führungskraft über die kulturellen Hintergründe aller Teammitglieder Bescheid wissen? Das ist doch unmöglich! 

Wie können wir als Führungskräfte in einem von kultureller Vielfalt geprägten Arbeitskontext die Orientierung behalten und handlungsfähig bleiben? Zuallererst gilt hier der Grundsatz, “Nur wenn man sich selbst kennt, kann man eine effektive Führungskraft werden." (Vince Lombardi, American Football Trainer). Deswegen stellt sich die Frage: Wie beeinflusst Kultur Führungskräfte?

Unser kulturell geprägter Autopilot kann zu Fehleinschätzungen führen

Es gibt zwei Hirnfunktionen, die der Psychologe, Autor und Nobelpreisträger Daniel Kahneman (2011) als langsames und schnelles Denken bezeichnet.

Stark vereinfacht bezeichnet langsames Denken gelenkte Aufmerksamkeit und mühevolle Schritt-für-Schritt Analysen. Diese Form des Denkens ist also bewusst, absichtlich und energieintensiv. Es hilft uns vor allem in Situationen, die neu für uns sind.

Das schnelle Denken hingegen produziert automatisiert Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen, sowie gewohnheitsmäßiges Verhalten. Es erfolgt anstrengungslos und unbewusst, wie ein energiesparender Autopilot. Dieser basiert unter anderem auf komplexem, unbewusstem Wissen, das wir über große Zeiträume in unserem sozialen Umfeld erlernt haben: Unser Autopilot ist kulturell konfiguriert.

In vertrauten Kontexten können Führungskräfte sich auf den Autopilot verlassen. In einem interkulturellen Umfeld kann er allerdings Fehleinschätzungen und -entscheidungen produzieren.

Setzen Sie in nicht vertrauten Kontexten auf langsames Denken

Es kann also lohnend sein, Denkprozesse bewusst zu verlangsamen. Wie kann das nun in der Praxis aussehen? Lassen Sie sich bitte auf die folgende Führungssituation ein:

Sie sind verantwortlich für ein IT-Projekt, an dem ein internationales Team arbeitet. Ihnen fällt auf, dass Constantin aus Rumänien und Valerija aus der Ukraine nie proaktiv zu den Videokonferenzen beitragen, keine Probleme ansprechen oder Fragen stellen. Clyde und Mary aus den USA dagegen haben immer sehr hohe Redeanteile, wodurch andere Teammitglieder weniger Gelegenheit für Beiträge haben. Nun sind Sie als Führungskraft gefordert. Wie können Sie den Informationsfluss im Team fördern? Denken Sie nun, dass das Verhalten von Constantin und Valerija problematisch ist? Das ist verständlich. Doch möglicherweise ist diese Deutung aus dem “schnellen Denken-Modus” heraus entstanden und sie liegen damit falsch.

Es ist ratsam, in den “langsam Denken-Modus” zu schalten und die Situation zu analysieren. Das bietet auch die Chance, sich als Führungskraft weiterzuentwickeln und Unterschiede respektvoll und wertschätzend zu nutzen.

KPSM-Modell: Vier Faktoren beeinflussen unser Verhalten

Das KPSM-Modell (siehe Link, S.42) kann Ihnen helfen, diese Analyse strukturiert und effizient anzugehen. KPSM steht für vier zentrale Faktoren, die unser Verhalten leiten:

Kultur:

Wie wir Situationen deuten, kann sich unterscheiden – je nachdem, was wir durch die Erfahrungen in unserem sozialen Umfeld gelernt haben. Die Beteiligten im Fallbeispiel haben möglicherweise ein unterschiedliches Verständnis der Bedeutung von Teammeetings, von Führung und von Vertrauen. Sind die Meetings dazu da, neues Wissen im gemeinsamen Austausch zu generieren oder geht es vielmehr um direkte Informationsweitergabe und Verteilung von Aufgaben? Sind kritische Äußerungen in Anwesenheit einer Führungskraft ein Beitrag zum Informationsfluss oder bergen sie das Risiko, die Autorität der Führungskraft in Frage zu stellen? Entsteht Vertrauen im Team durch gute Zusammenarbeit oder durch Investitionen in persönliche Beziehungen, die über das technisch notwendige hinausgehen?

Sie könnten …

  • klarstellen, dass aus Ihrer Sicht eine Teamsitzung dann gut ist, wenn sie neues Wissen generiert und dass die Voraussetzung dafür ist, dass sich alle einbringen,
  • ein Teammitglied, das auf derselben hierarchischen Ebene wie Constantin und Valerija steht, damit beauftragen, außerhalb der Meetings Informationen von ihnen einzuholen,
  • alles fördern, was die persönlichen Beziehungen der Teammitglieder untereinander stärkt: Persönlicher Austausch, gemeinsames Essen und Trinken (auch online!).

Gemeinsame Mittagspausen stärken die persönlichen Beziehungen der Teammitglieder untereinander. (Foto: Bantersnaps/Pexels.com)

Person:

Wir alle sind einzigartige Individuen mit speziellen Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Erfahrungen. Der persönliche Hintergrund der Teammitglieder kann eine Erklärung für ihr Verhalten sein. So ist es möglich, dass Valerija eher introvertiert, Clyde hingegen sehr extrovertiert ist. Auch in einer völlig anderen Teamkonstellation würden Sie von Clyde wesentlich mehr Informationen bekommen als von Valerija.

Sie könnten …

  • moderierend eingreifen, wenn Clyde und Mary hohe Redeanteile haben,
  • den Teammitgliedern die Möglichkeit geben, schriftlich zu den Meetings beizutragen, z. B. durch vorbereitende E-Mails oder spontane Chatbotschaften,
  • persönlich Einzelgespräche mit Constantin und Valerija führen, um ohne Zuschauer*innen Informationen zu gewinnen.

Situation:

Alles, was wir tun, ist in einen bestimmten Kontext eingebettet. Externe Faktoren bestimmen unser Verhalten mit. Finden die Meetings statt, wenn Mary gerade ihren Arbeitstag startet und voller Energie ist, wohingegen Constantin schon am Ende eines langen Arbeitstages ist? Sitzt Valerija vielleicht in einem Großraumbüro und kann sich schlecht konzentrieren?

Weitere mögliche Handlungsmöglichkeiten sind also ...

  • die Meetings zu wechselnden Zeiten anzusetzen,
  • Einfluss auf die Arbeitsbedingungen von Constantin und Valerija zu nehmen,
  • Constantin und Valerija zu einem Meeting in Deutschland einzuladen.

Macht:

Jede menschliche Interaktion ist von Hierarchie- und Machtverhältnissen beeinflusst (z. B. durch den Status, die sprachlichen Kompetenzen, das Verhältnis von Mehr- und Minderheit, das Wissen, etc.) Die Meetings finden auf Englisch statt. Vielleicht fällt es dadurch den Muttersprachler*innen viel leichter, sich zu äußern?

Wir haben Vorstellungen von der Qualität der Ausbildung in unterschiedlichen Ländern. Spielen unbegründete Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühle in die Teamdynamik hinein? Gibt es Abhängigkeiten aufgrund der Anstellungsverhältnisse?

Sie könnten …

  • die fachlichen Fähigkeiten aller Teammitglieder verdeutlichen und betonen, wie wichtig die verschiedenen Kompetenzen im Team zur Bewältigung der Aufgaben sind, 
  • Constantin und Valerija mehr Sicherheit bieten, z. B. durch langfristige Verträge oder durch das Schaffen fester Stellen.

Handlungsoptionen beim Navigieren kultureller Vielfalt im Hinterkopf behalten

Auf welche Handlungsoptionen wären Sie auch ohne Analyse gekommen? Für welche Strategie würden Sie sich nun entscheiden? Das KPSM-Modell hat seinen Zweck dann erfüllt, wenn es Sie auf neue Ideen bringt, auf die Sie sich einlassen können. Wenn Ihre Wahl nicht den gewünschten Erfolg bringt, kennen Sie bereits Alternativen.

Wer kulturelle Vielfalt navigiert, bewegt sich auf unsicherem Terrain. Wer den Mut hat zu Versuch und Irrtum, der lässt sich auf diese Unsicherheit ein und vertraut darauf, zu lernen – durch Fehler und durch Erfolge.

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