"Arbeitsleben ist auch Sozialleben"
Die Redaktion der "Wirtschaftspsychologie aktuell" hat mit dem Psychologen und Innenarchitekten Andres Hegenbart über die Multifunktionalität von Büroräumen und die Veränderungen des Arbeitsumfeldes durch Corona gesprochen.
Wenn ich morgen Bauherr:innen fragen würde, seit wann sie sich bei Neu- oder Umbauten Gedanken über die Gestaltung von Arbeitsräumen machen, würden sie vermutlich sagen, dass sie das immer getan haben – über Wandfarben nachgedacht, über Büromöbel, zunehmend auch über die technische Ausstattung. Wann haben Sie begonnen, oder vielleicht sollte ich fragen, wann konnten Sie damit beginnen, Ihren Auftraggebenden die weit über diese Aspekte hinausgehende Komplexität der Arbeitsraumgestaltung mit all ihren Wirkungen und Nebenwirkungen zu vermitteln?
Bereits im Kontext mit der von dem österreichisch-US-amerikanischen Sozialphilosophen und Anthropologen Friedjof Bergmann begründeten „New-Work“-Bewegung, rückte die Arbeitswelt stärker in den Fokus und damit auch die Gestaltung von Arbeitsräumen. Unter dem Einfluss der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels spielt sie eine immer größere Rolle. Unternehmen müssen um gute, hochqualifizierte Mitarbeitende kämpfen. Damit sind neben dem Angebot flexibler Arbeitszeiten auch auf Arbeitsräume bezogene psychologische Aspekte wie Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit und -bereitschaft viel wichtiger geworden.
Heißt das, Auftraggebende fragen Sie direkt nach psychologischen Wirkungen bei der Gestaltung von Arbeitsräumen?
Der psychologische Teil wird nicht explizit nachgefragt. Ich bringe ihn jedoch ein in die vorbereitenden Gespräche und registriere ein wachsendes Interesse daran sowie mehr Offenheit für diese Zusammenhänge.
Worauf führen Sie das zurück?
Allein schon deshalb, weil ich durch den psychologischen Ansatz andere Gedanken in das Gespräch einbringe. Vor einigen Jahren hatte ich den Auftrag einer Wohnungsbaugenossenschaft, die einen etwa 100 Quadratmeter großen Raum zu einem Sitzungsraum umbauen wollte. Dort sollten im Rahmen von Mitgliederversammlungen Beratungen stattfinden und Entscheidungen gefällt werden; auch die Möglichkeit zur Mehrfachnutzung als Festsaal für verschiedene Anlässe strebte man an. Normalerweise hätte man entschieden, den Raum zu bestuhlen, ein großes Podium aufzubauen, gut sichtbar für die im Saal sitzenden Mitglieder - ohne dabei zu bedenken, dass das auch ein Machtgefälle ausdrückt. Das wäre sicher so akzeptiert worden. Aber ich habe dann gefragt, ob die Blickbeziehung zwischen Redner:in bzw. Podium von oben nach unten so gewollt ist und der sozialen Beziehung entspricht, die zwischen denen, die auf dem Podium sitzen und denen unten in den Stuhlreihen, herrscht. Wir waren uns mit den Vertretenden der Genossenschaft rasch einig, dass das zwischen Mitgliedern und Vorstand oder anderen Podiumsgästen so nicht sein soll. Alternativ bot mein Büro an, das Podium auf der normalen Sitzebene zu platzieren und Sitze für die Mitglieder gestuft nach oben anzuordnen, ähnlich den Zuschauersitzen in manchen Kinos und Theatern. Die Auftraggebenden entschieden sich - trotz erheblicher Mehrkosten - für das gestufte Auditorium, wodurch die Anordnung der Sitze und die Blickrichtung dem Selbstverständnis der Genossenschaft entsprachen. Bis heute sind die damaligen Auftraggebenden noch immer hoch zufrieden mit dieser Lösung. - So kann das gehen, wenn man von der sozialpsychologischen Seite aus denkt.
Seit zwei Jahren leben wir mit Corona. Verlieren Arbeitsräume durch die Verlagerung vieler Tätigkeiten ins Homeoffice an Bedeutung, zumal ja etliche Arbeitgebende auch nach Corona am Homeoffice festhalten und damit Kosten für Büroflächen sparen wollen? Werden Menschen im Homeoffice viel Komfort verlieren, weil sich normale Mietwohnungen für Ihr Angebot eines gesunden und die Freude an der Arbeit fördernden Arbeitsplatzes/Arbeitsraums nur sehr begrenzt eignen?
Das Thema Homeoffice ist ja nicht erst mit Corona aktuell geworden. Es spielt seit Jahren eine Rolle, wenn es um attraktive Arbeitsbedingungen geht, weil jemand sich dadurch z. B. seinen Kindern oder einem zu pflegenden Angehörigen besser widmen kann oder weil sich manche Aufgaben in Ruhe zu Hause besser erledigen lassen als im Büro. Wichtig ist für viele Arbeitnehmende die Option zu haben, selbst entscheiden zu können, wann und wo sie arbeiten. Corona hat die Zahl der im Homeoffice Arbeitenden durch die zeitweilig geltende Vorschrift, Homeoffice überall zu ermöglichen, wo der Arbeitsprozess das erlaubt, enorm erhöht. Die dadurch gewonnenen guten Erfahrungen und die von Ihnen angesprochenen Risiken werden Einfluss auf die Zukunft haben.
Müssen Sie, wenn der Trend ins Homeoffice anhält, um Aufträge bangen? Konterkariert er nicht all Ihre Angebote für einen gründlich geplanten Raum? Alle Homeoffice Arbeitsplätze, die ich aus meinem Bekanntenkreis kenne, sind jedenfalls ungesund, meist zu klein, nicht gut beleuchtet, nicht ergonomisch und fördern auch weder die Arbeitseffektivität noch die Lust am Arbeiten.
Erstens werden viele Menschen nicht Vollzeit im Homeoffice arbeiten. Es braucht auch den Kontakt zu den Kolleg:innen und den Austausch untereinander. Optimal gestaltete Arbeitsräume in Unternehmen und anderen Einrichtungen werden deshalb weiterhin geschaffen werden. Zweitens lassen sich Arbeitgebende – wenn jemand dauerhaft im Homeoffice arbeitet – eventuell auch motivieren, im Interesse der Sorgfaltspflicht eine bessere Ausstattung des häuslichen Arbeitsplatzes zu finanzieren. Und drittens macht die Chance, sein privates Anliegen – Kinder betreuen zu können, mehr Zeit für die Familie zu haben statt kilometerweit zur Firma zu pendeln – manches wett. Denken Sie zudem an die mit einer persönlichen Note versehene Umgebung, die zu Hause gegeben ist, die ich mir aber am Arbeitsplatz im Unternehmen erst aneignen oder sie herstellen muss. Für die Arbeitsplätze im Unternehmen selbst bedeutet diese Entwicklung, dass sie neue Anforderungen erfüllen müssen, weil im Verlauf der Woche abwechselnd Angestellte dort arbeiten und ggf. unterschiedliche Aufgaben erledigen werden.
Ich habe von einer alten Kirche in Ostfriesland gehört, die neben einem normalen Eingang eine sehr kleine, niedrige Tür hat. Sie wird Schwedentor genannt. Der schwedische König bestand seinerzeit darauf, dass Soldaten die Kirche durch diese in der Nordfassade gelegenen Tür verlassen. Sie mussten dabei zwangsläufig den Kopf neigen als ehrerbietigen Gruß an ihren Herrscher im Norden. Sind solche durch den gebauten Raum geschaffene Machtdemonstrationen ein Stück Geschichte, die mit der Gegenwart absolut nichts mehr zu tun haben?
Das Beispiel zeigt eine wenig subtile Art, Macht auszuüben - in diesem Fall die des Königs gegenüber den Soldaten. Auch heute wird gebauter Raum soziale Macht widerspiegeln: beispielsweise durch Zugangsbeschränkungen einzelner Bereiche als Territorium für nur bestimmte Rolleninhaber:innen einer Organisation, oder aber über die Möglichkeit einer Sichtkontrolle auf Arbeitsbereiche. Macht kann sowohl eine positive als auch eine negative Qualität im organisationalen Kontext sein. Es gilt die negative Wirkung zu vermeiden, die Widerstand hervorruft.
Beim Fachtag der Sektion Wirtschaftspsychologie im BDP 2021 haben Sie in Ihrem Referat Oberflächenkonstellationen in Räumen große Bedeutung beigemessen. Ich erinnere mich an eine Formulierung, wonach diese uns Angebote machen, die etwas ermöglichen oder verhindern – sogenannte Affordanzen. Als Beispiel erwähnten Sie ein Fenster. Diese Oberfläche biete uns an, hindurchzuschauen, das Fenster zu öffnen u.a.m. - Das klingt für uns als Lai:innen auf diesem Gebiet ziemlich lapidar: Wir sehen eine Oberfläche, erkennen ein Fenster und wissen, was wir damit tun können - was sonst? Wir sehen die Oberfläche eines Telefons und wissen: damit kann man telefonieren – ja und?
Die Oberflächen sind nur ein Teil der physischen Umwelt in dem ökopsychologischen Verständnis nach James J. Gibson; sie trennen eine dahinterliegende Substanz von einem umgebenden Medium, der Luft. Oberflächen sind darin nun tatsächlich der Teil, der überwiegend visuell wahrgenommen wird.
Genau so ist das, jedenfalls solange die Oberflächenkonstellation bekannt und vertraut ist. Aber das kann ja auch eine ganz andere Oberflächenkonstellation sein, die Sie noch nicht kennen. Sie trägt zum einen eine Funktion; die Wandoberfläche reflektiert z. B. Licht, dämpft Schall oder ermöglicht einen Durchgang.
Zum anderen hat sie eine Information. Wenn ich die Information nicht verstehe, kann die Oberfläche noch so tolle Funktionen haben; ich kann sie nicht nutzen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus dem realen Leben: Ich stand einmal vor einem neugebauten wunderschönen Gebäude, einem Fachärztezentrum, und fand - an einer Glasfassade vorbeilaufend - keinen Eingang. Ich erkannte zwar eine kleine Eingangstür mit Rahmen, konnte sie jedoch nicht öffnen. Mehr zufällig bewegte ich mich ein Stück weg und kam dabei so nah an die Glasfassade heran, dass sich eine Schiebetür öffnete. Die Funktion „Tür öffnet sich“ gab es also, aber keine erkennbare Information über einen Türdurchgang.
Für viele Unternehmen ist Transparenz ein Leitbild. Das setzen sie auch um in Form einer Glasfassade, gläserner Türen und Wände. Formal ist das nachvollziehbar, aber durchaus nicht von allen Mitarbeitenden akzeptiert oder gar gewünscht. Die Oberfläche bietet einen guten Überblick an, erlaubt aber auch das Gesehen-Werden und somit Beobachtung oder gar Kontrolle. Und das Gefühl eines Kontrolliert-Werdens ruft Widerstand und Kompensationsverhalten hervor, die einer Arbeitseffizienz gegenläufig sein können.
Was tut man als Architekt:in, wenn man ungewollt eine Oberflächenkonstellation geschaffen hat, die falsche oder jedenfalls unerwünschte Angebote macht?
In der Regel ist der Auftraggebende und die Nutzerschaft dem ausgesetzt. Der Wille und das Potenzial zur Veränderung hängen dann von dem Grad des geschaffenen Problems ab. In dem vorgenannten Beispiel der Glasfassade des Fachärztezentrums wurde die Fassade umgebaut. Heute ist der Haupteingang erkennbar.
Sie haben im Jahr 2021 einen der Nobis Arbeitsschutz-Preise des Landes Baden-Württemberg für Ihre Forschung zur Wechselwirkung zwischen gebautem Raum und Menschen erhalten. Verabschieden Sie sich gerade von der Praxis in die Wissenschaft?
Nein, ganz sicher nicht. Ich habe mich neben meiner Arbeit, die immer wissenschaftlich orientiert war, mit einer psychologisch wissenschaftlichen Basis meines Tuns beschäftigt und ein Facettenstrukturmodell entwickelt, das die Facetten des gebauten Raumes als Affordanzträger zu den Facetten der psychologisch wirksamen Affordanzen in Beziehung setzt und außerdem eine Differenzierung der Blickwinkel der jeweiligen Nutzer:innen auf den Raum ermöglicht.
Es fußt u.a. auf James Jerome Gibson und seinen Forschungen zur ökopsychologischen Sicht auf die Umwelt sowie auf Roger Barker und seinen Ausführungen zum „behavior setting“. Die Forschungsergebnisse beider haben nebeneinander existiert und sind jetzt zusammen mit neuen Erkenntnissen in das Facettenstrukturmodell integriert worden.
Das Modell erlaubt es, die Affordanzen des Raumes und ihre Wirkung auf den Menschen in seiner jeweiligen Arbeitsrolle in Verbindung zu bringen. Es ermöglicht Innenarchitekt:innen, Räume zielführender zu gestalten. Sie können das Setting, das in den Räumen stattfinden soll, besser analysieren: z. B. Arbeitsbeziehungen, Hierarchien, die Zusammenarbeit unter Mitarbeitenden. Es führt zu den richtigen Fragestellungen vor Beginn der Gestaltung der Räume: Welche Aktivitäten finden in welcher Reihenfolge statt, welche Akteur:innen gibt es in welchen Rollen? Und es erleichtert den Vergleich von Konzepten für den gebauten Raum. Deren Evaluation ist wichtig, und bisher zeigt diese immer noch projektbezogen was gelungen ist, welche Ziele erreicht oder nicht erreicht wurden. Das hat mich bewogen daran zu arbeiten, wie man projektübergreifend eine Vergleichbarkeit herstellen kann.
Wie viel davon können Sie in welchem Kontext bereits anwenden?
Ich habe mit meiner Forschung bisher nur die Tür zu einem Möglichkeitsraum wissenschaftlicher Forschung einen Spalt weit geöffnet. Weitere Forschungsarbeit von vielen Forschenden wird nötig sein. Aber das Modell liefert mir schon jetzt die Möglichkeit, eine noch bessere Interviewstruktur zu entwickeln für Gespräche mit Auftraggebenden: Wie muss ich meine Fragen stellen? Worauf müssen sich meine Fragen beziehen? Was müssen wir festlegen, was müssen wir klären? Das betrifft verschiedene Gebiete, insbesondere sämtliche Affordanzen für den sozialen Bereich, die ich als sozialergonomische Affordanzen bezeichne. Da geht es um das soziale Zusammenspiel der Beschäftigten in ihren verschiedenen Arbeitsrollen. Arbeitsleben ist auch Sozialleben. Räume sollten daher so ausgestaltet sein, dass sie - wenn möglich und gewünscht - multifunktional sind: geeignet für ein Brainstorming, geeignet für eine Dienstbesprechung, geeignet für eine informelle Unterhaltung beim Kaffee und einem Snack. Das wird in Zukunft eine noch größere Herausforderung sein als bisher.
Sehen Sie in dem Modell auch eine Anleitung zum Handeln für Kolleg:innen mit weniger Erfahrung?
Genau. Es ist eine Anregung für viele Kolleg:innen aus dem Bereich der Architektur und Innenarchitektur bezüglich ihrer Kommunikationsstruktur - für Leute, die sich mit dem Bau von Arbeitswelten aber auch Wohn- und Wellness- sowie kulturellen Welten beschäftigen. Wir alle haben ja bisher nicht konzeptionslos kommuniziert, aber der Perspektivwechsel von der Frage, welche Funktionen der Raum haben muss, zu der Frage, was der Raum mir anbieten muss, damit ich das und das machen kann, ist ein wichtiger Schritt, bei dem man sich von bestehenden Konzepten lösen und neu denken und vor allem auch die organisationellen Arbeitszusammenhänge durchdenken und aushandeln muss.