Wie Übermorgengestalter:innen Unternehmen in die Zukunft führen
Ökologische und soziale Krisen verdeutlichen seit Jahren, dass sich auch Unternehmen wandeln müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Dafür braucht es Mitarbeitende, die furchtlos in die ungewisse Zukunft blicken und aktiv mit eigenen Ideen Veränderungsimpulse setzen. Wie Unternehmen solche Übermorgengestalter:innen finden, anziehen und unterstützen können, erklärt Businesscoach und Bestsellerautorin Anne M. Schüller im Interview.
Was zeichnet Übermorgengestalter:innen aus?
Übermorgengestalter:innen sind Zukunftsversteher:innen. Diese Zukunft lässt sich allerdings nicht im Voraus planen, sie ist permanente Vorläufigkeit. Daher sind Übermorgengestalter:innen sehr flexibel und dynamisch und können sich an ständige Veränderungen anpassen. Zugleich stellen sie stets das Existierende auf den Prüfstand, um einerseits Brauchbares für die Zukunft beizubehalten und andererseits Veraltetes würdevoll zu beerdigen.
Wo finden Unternehmen Übermorgengestalter:innen?
Insbesondere in der Generation Y und Z. Während ältere Menschen tendenziell das Erreichte bewahren möchten, um z. B. ihre erlangten Ansprüche und Güter zu behalten, setzen junge Menschen eher auf ihre Träume und Ideale und wollen Sinn in die Arbeit bringen. Unternehmen dürfen nicht bloß im Bewerbungsgespräch versprechen, dass sie fortschrittlich und offen für Anregungen und Selbstgestaltung seien, in der Praxis jedoch erwarten, dass Neuankömmlinge in vordefinierten Prozessen arbeiten und sich anpassen.
Um Übermorgengestalter:innen anzuziehen und mit ihnen die Zukunft zu erreichen, müssen Unternehmen Möglichkeitsräume zum Experimentieren und Ausprobieren schaffen, in denen Mitarbeitende die Gelegenheit erhalten, eigene Ideen z. B. für neue Arbeitsprozesse zu erproben und umzusetzen. Außerdem braucht es neben dem Onboarding ein Preboarding für die Zeit zwischen der Jobzusage und dem ersten Arbeitstag. Allzu oft treten junge Menschen nämlich den Job trotz Zusage nicht an oder scheiden schnell wieder aus, wenn sie in der Anfangszeit nicht begleitet werden.
Wie können Übermorgengestalter:innen Veränderungen in Unternehmen initiieren?
Statt als einsamer Fels in der Brandung zu agieren sollten sich Übermorgengestalter:innen mit Gleichgesinnten in ihrem Unternehmen vernetzen. Allein hat man schnell Feinde, weil das ungewisse Neue oft Ängste auslöst. Schon Universalgelehrte wie z. B. Galileo Galilei mussten wegen ihrer Lehren um ihr Leben fürchten. Als Gruppe können Übermorgengestalter:innen besser verstehen, wie sich die Welt und das Unternehmen trotz dieser Abwehrreflexe verändern lassen.
Kleine und große Transformationen werden folglich bestenfalls aus der Mitte des Unternehmens heraus erreicht. Auch auf unteren und mittleren Ebenen finden sich viele Führungskräfte, die zwar vom Unternehmen auf Ziele und Verfahrensweisen fixiert werden, jedoch Gestaltungswillen haben und im Verbund mit ihrem Team Neuerungen erreichen können. Früher waren die meisten Führungskräfte Manager:innen, die gestaltet, gesteuert, und Anweisungen erteilt haben, doch heute und in Zukunft wird das klassische Managen zunehmend durch künstliche Intelligenz und Automatisierung abgedeckt. Wichtiger werden daher sozial intelligente Führungskräfte mit Menschenverständnis. Diese sogenannten Katalysator:innen beschleunigen Prozesse und bauen Hürden und Blockaden ab, beispielsweise überbordende Bürokratie.
Wie entscheiden Führungskräfte, welche Veränderungen sie auf welche Weise unterstützen?
Zunächst müssen alte Prozesse und Systeme abgebaut werden, ehe neue hinzukommen. Im normalen Leben stellen wir das neue Sofa auch erst in die Wohnung, nachdem wir das alte weggeräumt haben. Klassische Unternehmen setzen jedoch oft alles nur obendrauf, sodass sich Bürokratie aufstaut und das Personal am Anschlag ist.
Mit der Starfish-Methode sollten deshalb Prozesse und Strukturen im Unternehmen analysiert werden: Was möchten wir behalten, verändern, vermehren oder reduzieren? Auch die Methode 2:1 ist hilfreich: Anstatt eine alte Sache durch eine neue zu ersetzen, sollten immer zwei alte Komponenten gegen eine Neue ausgetauscht werden. Ein weiteres Tool heißt „Kill your stupid rule“ und identifiziert unnütze Regeln, die man unhinterfragt und nur aus Gewohnheit befolgt.
Kann Übermorgengestaltung trainiert werden?
Ja, jedoch sind nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung von ihrer Persönlichkeitsstruktur her prädestiniert, die Avantgarde, die Vorhut zu sein. Und auch für sie gilt: Use it or lose it. Daher müssen Unternehmen genügend Gestaltungsräume offenhalten, damit Übermorgengestalter:innen im Unternehmen bleiben und ihre Qualitäten nicht verlieren. Als Entwickler des Unterhaltungselektronikunternehmens Atari beispielsweise begannen, Videospiele wie „Star Raiders” zu konzipieren, war die Managementspitze äußerst skeptisch und wollte dieses Vorhaben unterbinden. Nur weil der direkte Vorgesetzte die Entwickler deckte, konnten sie den heutigen Klassiker der Videospielgeschichte „Star Raiders” auf den Markt bringen. Unternehmen sollten folglich einer übermorgengestaltenden Vorhut Raum geben, die zuerst über den wilden Fluss ins Neuland vordringt.
Doch auch die Angestellten, die vorerst zurückbleiben, können dorthin gelangen. So nutzt eine „frühe Mehrheit“ die Trittsteine, welche die Vorhut über den Fluss gelegt hat, und eine „späte Mehrheit“ folgt etwas später über inzwischen gebaute Brücken nach. Solche Trittsteine und Brücken sind die Erfahrungen der Vorhut, sodass veränderungsscheuere Menschen nicht ins kalte Wasser springen müssen, um herauszufinden, was funktioniert und was nicht.
Der jahrzehntelange wirtschaftliche „Fortschritt“ wirkte sich häufig zum Nachteil von Umwelt und Gesellschaft aus. Kann Übermorgengestaltung auch schaden?
Der Fortschritt der Vergangenheit unterscheidet sich von demjenigen der Zukunft. Zukünftig werden für Unternehmen nicht mehr maximaler Profit und Shareholder Value Zielvorgabe sein, sondern die Unternehmensgewinne müssen zugleich der Umwelt und Gesellschaft zugutekommen. Nur wenn Unternehmen den ökologischen, sozialen und ökonomischen Dreiklang berücksichtigen, können sie attraktiv sein für junge Arbeitnehmende und Kund:innen. Schließlich handelt es sich bei zehn Prozent der Kund:innen ebenfalls um Übermorgengestalter:innen, die ihre Kaufentscheidungen gemäß dem neuen Zukunftsverständnis fällen.
Geldscheine sind so gesehen Stimmzettel, mit denen bestimmte Unternehmen und Produkte unterstützt werden. Dabei genügt den Konsumierenden das schöne Sonntagsgerede nicht, sondern Unternehmen müssen tatsächliche Veränderungen vorweisen. Insbesondere junge Mitarbeitende sind in sozialen Medien vernetzt und bringen schnell nach außen, wenn ein Unternehmen Fortschrittlichkeit lediglich propagiert. Die Kund:innen und Arbeitnehmer:innen von heute haben die Macht und sie fordern einen Fortschritt, welcher die Welt insgesamt verbessert.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wir sprachen mit:
Anne M. Schüller ist Speakerin, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenzentrierte Unternehmensführung. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager:innen und zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler:innen aus. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Bahn frei für Übermorgengestalter!“ [Werbung].
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