Introvertierte Führungskräfte: Die unerkannten Quiet Potentials

Zaghaft, still, nicht belastbar? Introvertierte werden mit zahlreichen solcher Vorurteile konfrontiert, die es ihnen erschweren, in Führungspositionen zu kommen. Tatsächlich sind Führungskräfte mehrheitlich extravertiert, doch sind sie nicht automatisch besser für diese Rolle geeignet. Introvertierte bringen wertvolle Qualitäten für Führungsaufgaben mit. Warum es sich daher für Unternehmen lohnt, introvertierte Mitarbeitende zu fördern, erläutert Katja Schwalbach im Gespräch.

Wie äußert sich Introversion und was unterscheidet sie von Extraversion?

Introversion (nach innen gewandt) und Extraversion (nach außen) sind zwei Pole derselben Dimension eines Persönlichkeitsmerkmals. Auf dieser Dimension haben wir zwar unsere individuelle Wohlfühlzone, sind aber weder auf genau einen Punkt festgelegt noch ausschließlich intro- oder extravertiert.

Zwischen Intro- und Extraversion gibt es zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen erholen sich Introvertierte durch Ruhe, Alleinzeit und Reizreduktion, wohingegen Extravertierte Impulse von außen benötigen, selbst in Aktion sein müssen und sich deshalb noch nach Feierabend mit möglichst vielen Freund:innen verabreden.

Zum anderen haben Introvertierte aufgrund ihres sensitiveren Angstzentrums ein höheres Sicherheitsbedürfnis als Extravertierte. Sie sind weniger risikobereit, haben aber dafür auch weniger Unfälle. Extravertierte reagieren wiederum stärker auf die Aussicht von Belohnung, weil ihr höherer Grundpegel an Dopamin im Gehirn nach mehr Abwechslung von außen verlangt. Bei risikoreicheren Aktivitäten, wie Extremsportarten, bei denen es auch um den Dopaminkick geht, sind deshalb eher Extravertierte zu finden.

Wie beeinflussen diese Unterschiede das Verhalten von Intro- und Extravertierten?

Schon der persönliche Stil unterscheidet sich erkennbar. So agieren Introvertierte eher zurückhaltend und stehen ungern im Mittelpunkt. Beim Sprechen reduzieren sie den Blickkontakt, um sich besser konzentrieren zu können, wohingegen sie beim Zuhören intensiv Informationen aus der Mimik, Gestik und Körperhaltung herausfiltern. Ihre eigene Mimik ist weniger lebhaft und sie können nicht gut künstliche Begeisterung ausstrahlen.

In ihrer Arbeit bevorzugen Introvertierte anspruchsvolle komplexe Aufgaben, für die sie umfassend recherchieren und tragfähige Lösungen entwickeln. Generell strukturieren sie ihre Gedanken, bevor sie etwas sagen oder tun, weshalb sie auch lieber E-Mails schreiben als zu telefonieren.

Sind Introvertierte immer als solche erkennbar?

Nein. Introversion gilt in unserer Gesellschaft oft als Schwäche, weshalb nicht wenige Introvertierte ihre Selbstbeobachtungsgabe zur dauerhaften Anpassung an das gewünschte Verhalten nutzen. Der Preis ist allerdings ein enormer Energieverbrauch. Zudem leidet die Authentizität und sie können ihre sonstigen Stärken nicht mehr in Gänze einsetzen.

Welche Stärken zeichnen introvertierte Führungskräfte aus?

Introvertierte legen Wert auf Tiefe und Qualität. Deshalb mögen sie Smalltalk überhaupt nicht, sondern lieben Gespräche mit Substanz. Eine weitere Stärke ist Unabhängigkeit, denn für Introvertierte sind Belohnungen weniger stark motivierend als für Extravertierte.  Es geht ihnen mehr um Sinnhaftigkeit und Weiterentwicklung als um Status, Geld oder Einfluss, da Letzteres überschwängliches Verhalten und Selbstüberschätzung zur Folge haben kann. Ihre Unabhängigkeit erlaubt ihnen und ihren Mitarbeitenden, nonkonform zu denken und Etabliertes in Frage zu stellen, was flexibles Denken fördert und Innovationen ermöglicht.

Des Weiteren sind Introvertierte Expert:innen fürs Zuhören und für Empathie. Anstatt wie die meisten Menschen schon ihre Antwort zu formulieren, während das Gegenüber noch spricht, bauen Introvertierte die nonverbalen Botschaften ihres Gegenübers in ihre Antwort ein. Dieses Wahrnehmen von Zwischentönen schafft Verbindung und Vertrauen, sodass sich Gesprächspartner:innen ernstgenommen fühlen. Das macht Introvertierte zu den besten Einflussnehmern, gerade wenn Projekte mit Überzeugungsarbeit zu realisieren sind.

Tatsächlich kam 2011 eine Studie von Grant und Gino  zu dem Schluss, dass Introvertierte für proaktive Teams, die eigeninitiativ und fokussiert zusammenarbeiten wollen, die besseren Führungskräfte sind, weil die Mitarbeitenden selbst Verantwortung übernehmen dürfen, die Meinung der Führung nicht blind durchgesetzt wird und flache Hierarchien gut zu introvertierten Stärken passen.

Porträtaufnahme von Katja Schwalbach

Im Gespräch mit Katja Schwalbach (Foto: privat)

Weshalb werden Führungspositionen trotzdem mehrheitlich von Extravertierten besetzt?

Neben dem Halo- und Similar-to-me-Effekt spielt eine Rolle, dass viele Introvertierte die für sie selbstverständliche Wahrnehmungsfähigkeit ebenso bei ihren Vorgesetzten vermuten und dann vergeblich darauf warten, in ihrem Potential erkannt zu werden.

Zudem werden Menschen, die erst denken und dann sprechen schnell als zögerlich, inkompetent oder gar arrogant eingeschätzt. Außerdem sprechen Introvertierte wegen des bei ihnen dominanten parasympathischen Nervensystems oft langsamer oder emotional gedämpfter, was als Zeichen geringerer Spannkraft und fehlenden Engagements missverstanden werden kann. Wer fälschlicherweise so beurteilt wird, bekommt eher keine Führungsposition übertragen.

Wie können Unternehmen Introvertierte fördern?

Entscheidend sind nicht Macht, Status oder Geld, sondern selbstbestimmte und sinnhafte Arbeit. Auch schätzen Introvertierte eine klare Formulierung von Erwartungen und Aufgaben. Ferner sind die Unternehmens- und Fehlerkultur zentral: Wird die Unterschiedlichkeit von Persönlichkeiten im Sinne der Diversität geschätzt und gefördert, und sind die besonderen Stärken von Introvertierten bekannt und akzeptiert? Oder wird man beim kleinsten Fehler ausgelacht und muss stets den eigenen Selbstschutz aktiviert halten, was für alle Mitarbeitenden zu Lasten innovativer Weiterentwicklungen und des offenen Austauschs von Ideen geht?

Kurz gesagt: Nehmen Sie sich Zeit, Mitarbeitende ganzheitlich wahrzunehmen und ihnen mit Wertschätzung und Anerkennung zu begegnen. Hören Sie zu, geben Sie Feedback, fördern Sie Stärken und unterstützen Sie bei Schwierigkeiten. Mit etwas Geduld werden introvertierte Mitarbeitende so mit ihren Stärken sichtbarer und nutzen ihr gesamtes Potenzial für das Unternehmen.

Was hilft introvertierten Führungskräften, um ihre Energie aufrechtzuerhalten?

Sowohl Phasen für konzentriertes Arbeiten als auch Pausen sind essenziell. Steht ein Meeting an, sollte man sich eine Vor- und Nachbereitungszeit als fokussierte Alleinarbeitsphase im Kalender blocken. In Pausen sollten sich Introvertierte Zeit für sich selbst nehmen und z. B. spazieren gehen. Kommt man jedoch ständig in den roten Bereich des Energielevels, dann braucht es klarere Grenzen. Das heißt, Nein sagen zu lernen und sich gelegentlich in Meetings vertreten zu lassen, auch wenn das Risiko besteht, als nicht belastbar genug zu gelten

Generell helfen Selbstfürsorge, Stressreduktion und niedrigere Ansprüche an sich selbst, um gesund zu bleiben und sich nach stressigen Phasen zu erholen. Ohropax in der Tasche für den Notfall sind ebenfalls nicht verkehrt.

Wie sind Sie auf das Thema Introversion gekommen?

In meinen Angestelltenverhältnissen wurde mir von einigen Führungskräften gespiegelt, nicht belastbar und engagiert genug zu sein, trotz guter Erfolge. Ich wartete darauf, gesehen und mit meinem Potenzial erkannt zu werden. In meinem berufsbegleitenden Studium und in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen im Beratungskontext wurde ich auf das Thema Introversion und dessen Bedeutung in der Arbeitswelt aufmerksam. Da die meisten Trainings und Workshops auf extravertiertes Verhalten ausgelegt sind, habe ich ein entsprechendes Programm zur Weiterentwicklung für Introvertierte entwickelt.

Meines Erachtens kommt insbesondere Führungskräften eine besondere Verantwortung als motivierende und bestärkende Unterstützer zu. Darum befasse ich mich auch mit der Führungskultur, die häufig der Grund dafür ist, dass Introvertierte nicht als die „quiet potentials“ erkannt werden, die sie sind. 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wir sprachen mit:

Katja Schwalbach ist Prozessbegleiterin für Menschen mit leisen Kompetenzen in der Arbeitswelt. Sie unterstützt Introvertierte auf ihrem Weg zu persönlichem und wirtschaftlichem Erfolg. Als Trainerin für persönlichkeitsorientiertes Führen konzentriert sie sich neben der Vermittlung von Wissen besonders auf die praktische Beziehungsgestaltung zwischen Führungskräften und ihren Mitarbeitenden.

Weitere Informationen: www.katjaschwalbach.de

Literatur

Grant, A.M., Gino, F. (2011). Reversing the Extraverted Leadership Advantage: The Role of Employee Proactivity. The Academy of Management Journal, 54 (3), 528-550. https://doi.org/10.5465/AMJ.2011.61968043

Banner mit Hinweis zur Printausgabe 2/2022, in der ein weiterer Artikel von Frau Schwalbach mit dem Titel "Die versteckten Stärken von Introvertierten entfalten" zu finden ist. Zum Bestellen auf das Banner klicken, es führt zum Onlineshop.