Flexible Arbeitszeiten bergen Chancen und Risiken
Die Arbeitszeiten in Deutschland sind hoch flexibel. Das zeigen nicht nur einschlägige Statistiken zu Abend-, Nacht-, Schicht und Wochenendarbeit. Ein Kausalzusammenhang zwischen dem Trend zur Flexibilisierung und zunehmenden Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen ist nicht bewiesen. Dennoch sind sich Psycholog:innen und Gewerkschafter:innen einig, dass die Rahmenbedingungen entscheidend sind, wenn Arbeitgebende und Arbeitnehmende von flexiblen Arbeitszeiten profitieren sollen.
Rahmenbedingungen als entscheidender Faktor
„Flexibilisierung hat nicht die Aufgabe, zur Prävention psychischer Erkrankungen beizutragen“, erklärt der Psychologe Dr. Thomas Moldzio von „Moldzio & Partner – Institut für Personalauswahl“ im Gespräch mit „Wirtschaftspsychologie-online“. „Umgekehrt sollten sie auch nicht zu einer wachsenden psychischen Belastung führen.“ Die Rahmenbedingungen sind aus seiner mehrjährigen Erfahrung und Analyse von Modellen reduzierter und flexibler Arbeitszeit der entscheidende Faktor. „Bei reduzierter Arbeitszeit muss das Arbeitspaket ebenfalls reduziert werden; bei flexibler Arbeitszeit helfen Regeln, wie sie einige Unternehmen bereits eingeführt haben.“ Dazu gehöre z. B., dass nach 22 Uhr Arbeit am Computer unmöglich gemacht wird, weil der Server abgestellt ist. Überall, wo Mitbestimmung existiere, werde auf solche Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmenden bereits Wert gelegt.
Verantwortung auch auf Arbeitnehmendenseite
Thomas Moldzio sieht jedoch auch eine Verantwortung auf Seite der Arbeitnehmenden. „Die Chance, z. B. teilweise oder überwiegend von zu Hause aus zu arbeiten, erlaubt eine freie Gestaltung von Arbeitszeiten. Dafür ist der oder die Arbeitnehmende vor allem selbst verantwortlich.“ Der Einzelne könne Zeitfenster passend zu seiner bzw. ihrer biologischen Uhr und zu persönlichen Verpflichtungen z. B. bei der Kinderbetreuung wählen. Gestalte er seinen Arbeitstag bewusst, handle er sowohl im eigenen als auch im Unternehmensinteresse. Auch Firmen wollten gesunde und leistungsfähige Angestellte. Bewusste Gestaltung sieht Thomas Moldzio z. B. in der selbstständigen Begrenzung der Arbeitszeit und auch in der Wahl des Arbeitsplatzes zu Hause, der sich – wenn irgend möglich – nicht am Esstisch der Familie befinden sollte.
Gesetzliche Regelungen notwendig?
Gesetzliche Regelungen hält der Psychologe in diesem Zusammenhang für eher kontraproduktiv. Er fürchtet ein zu rigides Regelwerk, dass am Ende die Vorteile der Flexibilisierung für Arbeitnehmende und Arbeitgebende beseitigen würde. „Flexibilisierung ist ein Commitment-Thema, bei dem abzuwägen ist, wo Kontrolle und wo Schutz erforderlich ist. Im Moment wird Flexibilisierung noch oft missverstanden als Vermeidung von Kontrolle durch den Arbeitnehmer.“ Umgekehrt würden Mitarbeitende bisweilen glauben, sie müssten doppelt gut arbeiten, weil das Unternehmen ihnen die Vereinbarkeit z. B. von Familie und Beruf durch flexible Arbeitszeiten erleichtert hat. „Von der Wunschvorstellung der Achtsamkeit auf allen Seiten sind wir noch ein ganzes Stück entfernt.“
Überstunden und Psychische Belastung
Der wissenschaftliche Rechercheservice der Hans-Böckler-Stiftung verweist in einer Pressemitteilung zum Thema Flexibilisierung darauf, dass nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Jahr 2016 insgesamt 820 Millionen bezahlte und noch einmal 941 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet wurden. Gleichzeitig sei für viele Beschäftigte die psychische Belastung durch ihre Arbeit gestiegen, daraus resultierende Krankheitsbilder verursachten zunehmend mehr Fehltage.
„Das zeigt: Wir brauchen nicht noch mehr Entgrenzung von Arbeitszeiten, sondern Reformen, die auch den Beschäftigten einen größeren Anteil an ‚Flexibilitätsrendite‘ bringen“, sagt Dr. Yvonne Lott, Arbeitszeitexpertin der Stiftung. Anforderungen der Arbeit sowie private Verpflichtungen und Bedürfnisse verlässlich unter einen Hut bringen zu können, sei unerlässlich für Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Arbeitgebende sollten Möglichkeiten auch für zeitweilige Anpassungen der Arbeitszeit bieten und für ausreichend Personal sorgen, damit Vertretungen wirklich klappen. Zudem weist die Forscherin auf ein bislang ungelöstes Problem hin: Flexible Arbeitszeiten können zum Problem für die Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt werden, wenn sie nur von bestimmten Beschäftigtengruppen genutzt werden und gleichzeitig negative Konsequenzen für das berufliche Fortkommen haben. Erst wenn flexible Arbeitszeiten unabhängig von Geschlecht, Qualifikation oder Hierarchiestufe zur Normalität würden, ließen sich Nebenwirkungen wie die Verstärkung sozialer Ungleichheiten abstellen. Deshalb plädiert sie dafür, Möglichkeiten zur Arbeitszeitanpassung tariflich zu regeln.
Literatur