Warum klassisches Talent Management nicht mehr ausreicht

Klassisches Talent Management, das auf die Identifikation und Entwicklung weniger High Potentials setzt, stößt zunehmend an seine Grenzen. Unternehmen brauchen flexiblere Ansätze, die individuelle Stärken fördern, Kompetenzen breit entwickeln und strategische Sichtbarkeit ermöglichen. Wie gelingt ein neues Verständnis von Talentarbeit und wie können bewährte Instrumente mit kleinen Anpassungen große Wirkung entfalten?

Seit den 1950er-Jahren haben sich Instrumente wie Nachfolgeplanung, Leistungsbeurteilung, Potenzialanalysen und Karrierepfade als feste Bestandteile der Personalentwicklung etabliert. Sie bieten eine hohe Skalierbarkeit und zielen darauf ab, sogenannte „High Potentials“ zu identifizieren und zu fördern oder die Besetzung bestimmter „Schlüsselpositionen“ sicherzustellen (Cappelli & Keller, 2017).

Allerdings liegt ihnen die Annahme zugrunde, dass Talent eine planbare Ressource sei, deren Entwicklung zentral gesteuert und langfristig geplant werden könne. Dies steht im Widerspruch mit den Herausforderungen der zunehmend dynamischen Arbeitswelt (vgl. Globale Skills-Studie 2023, o.D.):

  • Wandelnde Kompetenzanforderungen: Technologischer Fortschritt und neue Arbeitsformen verändern Jobprofile schneller, als traditionelle Entwicklungsprogramme reagieren können.
  • Demografischer Wandel: Der demografische Wandel führt zu einem Mangel an Fachkräften mit den benötigten Kompetenzen. Es reicht nicht mehr, nur eine kleine Gruppe von High Potentials zu fördern – es müssen breite Kompetenzfelder über alle Mitarbeitenden hinweg entwickelt werden.
  • Veränderte Erwartungen: Mitarbeitende suchen individuelle Entwicklungswege abseits starrer Karriereleitern – zumal sie heutzutage häufiger ihren Arbeitgeber wechseln.
  • Geringe Anpassungsfähigkeit: Starre Pfade und Positionsbeschreibungen verhindern, dass individuelle Potenziale flexibel und strategisch eingesetzt werden können.

Vor diesem Hintergrund verlieren unflexible Nachfolge- und Entwicklungsmodelle zunehmend an Relevanz. Es braucht eine neue Perspektive auf Talentarbeit.

Was Talent Management heute braucht

Heute kommt es auf die Fähigkeit an, Talente flexibel zu begleiten, individuelle Entwicklungswege zu ermöglichen und Potenziale dort zur Entfaltung zu bringen, wo sie situativ den größten Wert stiften. Denn sogenannte „High Potentials“ bringen zwar oft überdurchschnittliche Ergebnisse, doch ihr Erfolg ist stark kontextabhängig: Netzwerke, Teamstrukturen und die Passung zur jeweiligen Rolle beeinflussen maßgeblich die tatsächliche Leistungsfähigkeit (Cappelli & Keller, 2017).

Damit steht nicht länger die Planung klassischer Karrieren im Vordergrund, sondern die Gestaltung förderlicher Rahmenbedingungen, in denen sich Mitarbeitende eigenverantwortlich entwickeln, neu orientieren und dynamisch mit den Anforderungen der Organisation mitwachsen können. Entwicklung wird zur gemeinsamen Gestaltungsaufgabe von Organisation, Führungskräften und Mitarbeitenden.

Praxisbeispiel: Bestehende Instrumente neu gedacht

Modernes Talent Management muss nicht bedeuten, bewährte Personalinstrumente vollständig aufzugeben. Vielmehr können diese gezielt weiterentwickelt und stärker auf individuelle Entwicklung, Kompetenzen und strategische Sichtbarkeit ausgerichtet werden.

Ein Anschauungsbeispiel aus meiner Arbeit: Gemeinsam mit einem internationalen Chemiekonzern haben wir Anpassungen und Ergänzungen an bestehenden Instrumenten des Talent Managements vorgenommen, um eine Grundlage für flexible, nachhaltige Entwicklung zu legen.

Zuvor verfolgten die verschiedenen globalen Standorte unterschiedliche Ansätze zur Talentidentifikation und -entwicklung. So gab es auch weder organisationsweite Transparenz noch Vergleichbarkeit von Talenten und Kompetenzen, was sich wiederum in einer niedrigen internen Mobilität äußerte. Ziel war es daher, einen global einheitlichen Ansatz auf Basis einer neuen digitalen Plattform einzuführen.

In der Analysephase haben wir die aktuellen Performance- und Talent-Management-Praktiken der Ländergesellschaften sowie landes- und kulturspezifische Anforderungen erhoben. Aus Stakeholder-Interviews haben wir zudem strategische Anforderungen und konkrete Zielsetzungen für einen neuen Ansatz abgeleitet. Besonders wichtig war die Schaffung von Transparenz über Talente und Kompetenzen weltweit sowie der Übergang von einer reinen Potenzialidentifikation hin zu einem stärken- und entwicklungsorientierten Ansatz für alle Mitarbeitenden. Individuelle Entwicklung sollte stärker an die strategische Ausrichtung der Organisation gekoppelt und Mitarbeitende mehr in die Eigenverantwortung für ihre Entwicklung gebracht werden.

In der anschließenden Konzeptionsphase wurde in enger Abstimmung mit den Ländergesellschaften ein neues Performance- und Talent-Management-Konzept entwickelt und iterativ mit unterschiedlichen Stakeholder-Gruppen, insbesondere Mitarbeitenden, validiert. In Fokusgruppen-Workshops wurden dabei Rückmeldungen zur Verständlichkeit und Passung zu den tatsächlichen Entwicklungsbedürfnissen eingeholt. Parallel erfolgte die technische Abstimmung mit dem SAP SuccessFactors System, um eine nahtlose Integration sicherzustellen.

Die zentralen Pfeiler des neuen Ansatzes:

  • Leistungsbeurteilung: Über die Beurteilung von Leistung wird nicht mehr in langen Konferenzen diskutiert, sondern Führungskräfte nehmen eine standardisierte Ziel- und Kompetenzbewertung vor. Dies macht Entwicklungsbedarfe sichtbar und verbessert Fairness und Objektivität.
  • Personalgespräche: Personalgespräche sind stärker zukunftsorientiert: Statt reinen Feedbacks zu vergangenen Leistungen werden diese gemeinsam reflektiert, um daraus passende Performance- und Entwicklungsziele abzuleiten – unter Berücksichtigung individueller Stärken und Interessen.
  • Karrierepool: Eine Potenzialeinschätzung im Rahmen von Konferenzen entfällt. Stattdessen können Mitarbeitende sich für einen Karrierepool zur internationalen Besetzung von Middle- und Senior-Management-Positionen bewerben. Ihr Potenzial wird über standardisierte Assessment Center beurteilt, die zugleich den Startpunkt für gezielte Entwicklungsmaßnahmen bilden.
  • Entwicklungsprogramm: Nachwuchstalente haben die Möglichkeit, sich auf ein neues Entwicklungsprogramm zu bewerben. Dieses bereitet sie auf Fach- und Führungsaufgaben vor, legt jedoch auch einen Schwerpunkt auf strategische Kompetenzentwicklung, internationale Vernetzung, Sichtbarkeit im Unternehmen und die Auseinandersetzung mit dem Geschäftsmodell.
  • Entwicklungskonferenzen: Aus klassischen Talentkonferenzen werden Entwicklungskonferenzen. Da Leistungs- und Potenzialbewertungen bereits separat erfolgen, liegt der Fokus nun auf der entwicklungsorientierten Betrachtung aller interessierten Mitarbeitenden sowie solcher mit besonderem Entwicklungsbedarf: Welche Stärken können weiterentwickelt werden? Welche Entwicklungsschritte sind sinnvoll? Wie kann die Person die Organisation zukünftig bereichern? Führungskräfte erhalten gleichzeitig einen Überblick über die vorhandenen Kompetenzen und Interessen und beraten sich gegenseitig über mögliche Entwicklungsmaßnahmen.
  • Mid-Year Check-ins: Direkt im Anschluss an die Entwicklungskonferenz erhalten die Mitarbeitenden ein strukturiertes Feedback zu den Ergebnissen. Gemeinsam mit ihrer Führungskraft besprechen sie konkrete nächste Entwicklungsschritte und legen Maßnahmen fest, die sich an den besprochenen Stärken, Entwicklungsfeldern und Zielen orientieren. Im weiteren Jahresverlauf wird der Fortschritt regelmäßig überprüft.

Nach Abschluss der Konzeptionsphase folgten die globale Umsetzungsplanung mit umfassenden Kommunikations- und Qualifizierungsmaßnahmen. Ein zentraler Erfolgsfaktor war, dass zentrale Formate nicht vollständig neu geschaffen, sondern auf vertrauter Basis weiterentwickelt wurden. Elemente wie das Personalgespräch oder die Konferenzform blieben grundsätzlich erhalten, wurden jedoch inhaltlich neu ausgerichtet. Diese Wiedererkennbarkeit erleichterte die Orientierung und wurde als unterstützend für die kulturelle Passung und Akzeptanz wahrgenommen.

Die Organisation verfügt heute über ein modernes, weltweit einheitliches Performance- und Talent-Management-System, das individuelle Entwicklung fördert, strategische Ziele unterstützt und eine hohe Transparenz über Kompetenzen und Talente im gesamten Unternehmen schafft.

Fazit

Talent Development eröffnet Unternehmen die Chance, ihre Personalentwicklung nachhaltiger, individueller und zukunftsorientierter zu gestalten. Dabei können kleine Anpassungen von klassischen Instrumenten bereits eine große Wirkung entfalten und die Basis für eine widerstandsfähige Organisation schaffen.

Literatur

Cappelli, P. & Keller, J. (2017). The Historical Context of Talent Management. Oxford University Press eBooks. https://doi.org/10.1093/oxfordhb/9780198758273.013.21

Globale Skills-Studie 2023: Schleppende Fortbildung behindert Leistung und Entwicklung von Mitarbeitenden | 360Learning. (o. D.). 360Learning.