Seelische Leiden in der Chefetage

Schlafstörungen, Isolation, Ängste und Erschöpfungssymptome – für viele Menschen bringt die Covid-19-Pandemie neben physischen und existenziellen Nöten auch psychische Folgen mit sich. Diese können sofort oder auch zeitverzögert lange nach einem Lockdown auftreten. In der Berliner Heiligenfeld Klinik hat ein Team von Expert:innen darauf reagiert und eine zweiwöchige Kurzzeittherapie entwickelt, die als akuter Stabilisator und Impulsgeber dienen und den Schritt in die oft tabuisierte psychologische Behandlung vereinfachen soll. Die Patient:innen sind seit April überwiegend Manager und Führungskräfte.

Bei fast allen neu aufgenommenen Patient:innen der letzten Monate waren die Folgen und Verarbeitung der Corona-Pandemie, die zu einer Zuspitzung der psychischen Belastung führten, Auslöser für den stationären Aufenthalt. Das Team der Heiligenfeld Kliniken geht jedoch davon aus, dass bei vielen Menschen das seelische Tief erst ein halbes Jahr nach dem Lockdown eintreffen und die Zahl der Depressiven weiter steigen wird.

Die Krise entlarve Schwachstellen und Achillesfersen, so Sven Steffes-Holländer, Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin, und diese Identitätskrise löse auch eine Bilanzierungskrise aus. Die Betroffenen fragen sich: „Was habe ich denn bisher eigentlich gemacht? Was soll ich noch glauben? Und wie hoch war der Preis?“ Auch viele unterschwellige Konflikte werden durch Corona wie ein Katalysator an die Oberfläche gespült, erklärt Steffes-Holländer. Immer deutlicher werde, dass sich das Arbeiten im Homeoffice für viele Betroffene nachteilig auswirkte, da sie dadurch ihre soziale Struktur verloren und sich isoliert fühlten.

Das Hauptklientel in der Kurzzeittherapie sind Manager:innen aus dem hierarchischen Mittelbau, die sich in einer „Sandwich-Situation“ befinden, in der sie sowohl den Vorgesetzten als auch den Unterstellten gerecht werden müssen. Diese Patient:innen sind oftmals unbeabsichtigt in Führungspositionen geraten und sehr gewissenhaft, wollen alles richtig machen und stehen unter großem Druck bei vergleichsweise wenig Erfolgserlebnissen.

Achtsamkeit und Meditation als zentrale Therapieelemente

Die Kurzzeittherapie der Heiligenfeld Kliniken zielt darauf ab, Patient:innen ein Repertoire an Strategien an die Hand zu geben, die sie bei der Bewältigung von (alltäglichen) Herausforderungen nutzen können. Dabei geht es um die Besinnung auf die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, aus denen heraus eine unsichere Phase wie die aktuelle Covid-19-Pandemie überstanden werden kann. Zentrale Therapieelemente sind Achtsamkeit und Meditation.

Eine vertiefende Behandlung ersetzt die Kurzzeittherapie allerdings nicht. Etwa 15 bis 20 Prozent der Patient:innen erkennen nach der „Schnuppertherapie“ die Notwendigkeit für eine weitere mehrwöchige Behandlung.

Wir sprachen mit dem Chefarzt Sven Steffes-Holländer über den Mut, Schwäche zu zeigen, über Belastungsfaktoren, die psychische Erkrankungen begünstigen können, und darüber, wie mit seelischen Leiden in Unternehmen umgegangen werden kann.

 

Sven Steffes-Holländer sitzt im Freien auf einem Stuhl und blickt in die Kamera.

Sven Steffes-Holländer ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin

Wie ist der Umgang mit „Schwäche“ und psychischen Erkrankungen in der Wirtschaftswelt einzuschätzen? Hat das Thema dort keinen Platz?

Führungskräfte und Manager präsentieren sich gerne als nimmermüde, starke Macher. Die eigene Verletzbarkeit hat im Business-Kontext wenig Raum, zu groß die Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung. Psychische Erkrankungen sind gerade unter Führungskräften ein Tabuthema, die Befürchtung besteht, dass mit der Offenlegung die eigene Führungskompetenz infrage gestellt werden könnte.

Dabei erfordert nichts mehr Mut, als Schwäche offen zu zeigen, stattdessen beispielsweise auch die eigene Unzulänglichkeit oder falsch dosierten Ehrgeiz zum Thema zu machen. Dieser Mut zur Wahrheit, zum humorvollen Umgang mit den eigenen Blessuren ist oft ein Impuls zum Wachstum der Persönlichkeit.

Gerade Menschen, die die eigene Komfortzone verlassen und zugeben, dass sie nicht vollkommen sind, können aus ihrem Scheitern heraus Großes erreichen. Authentizität führt zu mehr Glaubwürdigkeit und damit zu einer höheren Identifikation der Mitarbeiter mit ihren Führungskräften und dem Unternehmen.

Warum sind gerade Führungskräfte besonders anfällig für Burnout und andere psychische Erkrankungen?

Aus meiner Erfahrung sind sämtliche Leitungsebenen potenziell gefährdet, sowohl Geschäftsführerinnen, Geschäftsführer und Vorstände, als auch Bereichs- und Abteilungsleiterinnen sowie Gruppen- und Teamleiter. Als Belastungsfaktoren bei Führungskräften gelten unter anderem lange Arbeitszeiten, eine hohe Arbeitsintensität, Rollenkonflikte aufgrund der hierarchischen Position und Konflikte zwischen dem Berufs- und Privatleben als zentrale Belastungsquellen mit einem potenziellen Gesundheitsrisiko. Daneben spielen insbesondere Multitasking, eine hohe Arbeitsmenge, ein hohes Arbeitstempo und ausgeprägter Zeitdruck sowie die geforderte permanente Erreichbarkeit eine Rolle.

Arbeitsressourcen haben dabei eine wichtige Bedeutung für das Stresserleben und somit für die Gesundheit der Beschäftigten, insbesondere dann, wenn das Verhältnis zwischen Geben und Nehmen nicht ausgewogen ist, konkret zwischen der beruflichen Verausgabung auf der einen und den vorhandenen Belohnungschancen, wie z.B. Einkommen, berufliche Anerkennung und Entwicklungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite. Stehen das Engagement und die erfahrene Belohnung dauerhaft in einem deutlichen Ungleichgewicht, so steigt das Risiko für stressassoziierte Erkrankungen, zum Beispiel Burnout, Depressionen, Angsterkrankungen und psychosomatische Beschwerden.

Welche Vorteile könnte ein offener Umgang mit der Situation haben, sowohl für die Betroffenen als auch deren berufliches Netzwerk (Angestellte etc.)?

Ein offener Umgang von Betroffenen in Bezug auf psychische Belastungen leistet einen wertvollen Beitrag zur Destigmatisierung seelischer Leiden im Unternehmen. Psychische Gesundheit ist ein Thema, das über einen längeren Zeitraum im Betrieb „getriggert“ werden muss, beispielsweise auch durch Leistungen des betrieblichen Gesundheitsmanagements.

Jeder dritte bis vierte Arbeitnehmer entwickelt im Laufe seiner Biografie eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung. Das zeigt, dass psychische Belastungen nicht die Ausnahme sind, sondern eher elementarer Bestandteil unseres Lebens. Wenn diese Erkrankungen weiter ausgeklammert und tabuisiert werden, haben Vorurteile leichtes Spiel. Um diese ausräumen zu können, hilft es, sowohl über eigene Belastungen zu sprechen als auch Veränderungen bei Kolleginnen und Kollegen frühzeitig offen zu thematisieren, gegebenenfalls auch Unterstützung für bereits erkrankte Mitarbeitende anzubieten, um Beratung oder Psychotherapie in Anspruch nehmen zu können.

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