Zwischen Angst und Klarheit: Wie Sie Ungewissheit nutzen können
Wie gelingt Sicherheit unter Ungewissheit? Wie können wir aus lähmender Angst handlungsfähige Klarheit gewinnen – für uns selbst, in Unternehmen und im Coaching? Was hilft wirklich, wenn das „Was wäre, wenn…“ zu laut wird? Dieser Beitrag gibt Ihnen praktische Impulse für Coaching und Alltag.
Es wird Abend, die Welt vor dem Fenster wird stiller und die Gedanken beginnen zu kreisen. „Aber was ist, wenn…?“ Mit diesem Satz starten bei vielen die inneren Dramen, die sich immer weiter aufbauen, düster und bedrohlich wie ein nahendes Gewitter.
Solche „Dramen“ entstehen, wenn wir zwar wissen, dass das Problem in Wirklichkeit nicht so gravierend ist, wir es aber im Moment so intensiv erleben, dass es sich real anfühlt. Es ist wie eine Trance, ein Tunnelblick, der ausschließlich das Problem sieht. Körperhaltung, Gedanken und Gefühle sind dann so auf das Problem fixiert, dass wir es tatsächlich erleben, als wäre es die Wahrheit (Schmidt, 2004).
Gerade in unserer heutigen VUCA-Welt (volatil, unsicher, komplex, ambig) nehmen Unsicherheiten durch Kriege, Technikentwicklung und Klimakrise stark zu. Die Herausforderung besteht darin, nicht in Angst erstarrt in der Enge von „Was ist, wenn…?“ zu verharren, sondern einen Weg zu finden, die Kraft der Unsicherheit zu nutzen, um voranzukommen. Das ist sowohl für Arbeitnehmende hinsichtlich ihrer Karriereplanung als auch für Unternehmen, die in der VUCA-Welt wirtschaften, relevant.
Wie entsteht ein Problem?
Ein Problem entsteht, wenn ein Unterschied zwischen Ist- und Soll-Zustand vorliegt: Ich möchte eine Führungsposition haben (Soll) und ich habe es noch nicht erreicht (Ist). Allein das reicht aber nicht aus – es braucht auch die „Würze“ der Bewertung und inneren Geschichten (vgl. Schmidt, 2004):
- Bewertung: „Es ist schlimm, dass ich noch keine Führungskraft bin.“
- Benennung: „Das ist ein Problem.“
- Erklärung: „Ich habe es noch immer nicht geschafft, weil ich nicht gut genug bin.“
- Schlussfolgerung: „Ich muss mich noch mehr anstrengen.“
- Selbst-Beziehung: „Ich bin es nicht wert.“
- Vergleich: „Andere mit ähnlicher Erfahrung, haben schon eine Führungsposition, nur ich nicht.“
- Bewertung der Gefühle: „Es ist lächerlich, mich zu ärgern.“
- Erwartungen: „Andere sollten doch wissen, dass ich eine Führungsposition will.“
(Abb.: Schmidt, 2004)
Diese Gedanken führen zu Ohnmacht und Hilflosigkeit. Zwar ist es besonders unter Ungewissheit ein menschliches Bedürfnis, eine Erklärung für die Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand zu erhalten, doch nicht jede „Würze“ (also Bewertung) ist hilfreich.
Fallbeispiel: Entscheidung unter Ungewissheit
Harry, ein Klient von mir (Name geändert), wollte sich beruflich umorientieren, und schwankte zwischen zwei Optionen. Die Kriterien, von denen er seine Entscheidung abhängig machen wollte, waren in der Gegenwart nicht vorhersagbar, sodass es schier unmöglich war, die richtige Lösung zu finden: Welche Branche entwickelt sich wie? Welche Neuerungen bringt die Technik, welche Berufe werden dadurch obsolet? Diese Ungewissheit lähmte ihn fast. Doch was Harry klar wusste, war, wie sich seine Arbeit anfühlen sollte, z. B. welches Arbeitsklima er sich wünschte, wie Entscheidungen getroffen werden sollten oder wie viel Gestaltungsspielraum er in seiner Arbeit haben wollte. Zwar spürte er diese Qualitäten, konnte sie aber noch nicht in Worte fassen.
Storch und Krause (2014) haben in ihrem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) dafür sogenannte „Motto-Ziele“ entwickelt. Anders als bei klaren, konkreten Zielen geht es bei Motto-Zielen vor allem darum, wie jemand an sein Ziel herangeht – also um die innere Haltung und Motivation beim Erreichen des Ziels. Es werden durch Aktivierung eines positiven Affekts mithilfe positiver Bildkarten, Glaubenssätze und Körperhaltung unbewusste Ressourcen aktiviert, die der Zielerreichung dienen. Um Motto-Ziele zu entwickeln, wählen Klient*innen im ZRM eine Bildkarte aus einem rein positiven Kartenset aus, die einen positiven Affekt in ihnen auslöst und als positive Ressource hinsichtlich einer spezifischen Situation dient. Die Interpretation der Bildkarte obliegt dabei ganz den Klient*innen, denn nur sie können sagen, was sie mit diesem Bild assoziieren und was es in ihnen auslöst.
In meiner Coaching-Arbeit mit dem ZRM habe ich jedoch festgestellt: Wenn Klient*innen sehr tief in ihrem Problem stecken, können sie das Problem nicht einfach zur Seite schieben und sich auf etwas Positives einlassen. Sie kommen dann stets auf ein „Ja, aber…” und sind wieder beim Problem und nicht bei der Wunsch-Zukunft. Erst nach Würdigung der aktuellen Situation und der bisherigen Lösungsversuche kann sich der Blick für das Zieldienliche öffnen.
So kam es, dass ich mit Unterstützung zahlreicher Kolleg*innen und deren Klient*innen in einem fünfjährigen Prozess das Systemische KartenSet als Weiterentwicklung des ZRM erarbeitet habe. Es beinhaltet neben Bildkarten mit zieldienlichen Motiven auch solche mit blockierenden Zuständen.
Zurück zu meinem Klienten Harry und seiner Frage zur Berufswahl: Er wählte zuerst eine Bildkarte für seine Horror-Zukunft aus. Innerhalb weniger Sekunden entschied er sich für das Bild einer Faust, die den Kampf und die Härte symbolisierte, die er nicht mehr wollte. Nachdem ich ihn eingeladen hatte, weitere Assoziationen zur Horror-Zukunft zu teilen, wählte er von sich aus eine Bildkarte für seinen Wunsch-Zustand. Sein Wunsch-Zustand war ein Bild von Offenheit, Teamgeist und Experimentierfreude.
Damit wurde er trotz vieler Ungewissheiten, die er nicht steuern und vorhersehen konnte, handlungsfähig, denn die Jobbeschreibung und Organisationskultur (Konzern, öffentlicher Dienst oder Start-up) konnte er zielgerichtet in der Gegenwart auswählen. Für die Entscheidung gaben ihm die beiden Bilder spürbare Orientierung. Damit hatte er ein starkes Instrument für künftige Entscheidungen bei jeder Jobausschreibung.
Harrys Bildauswahl zur Entscheidung für seine Berufswahl - für seine Horror- (linkes Bild) und Wunschzukunft (rechtes Bild)
Die Macht der Bilder und des Körpers
Ein Schlüssel für nachhaltiges Self-Leadership liegt in der Nutzung von Bildern, der körperlichen Haltung und symbolischen Prozessen. Bilder sprechen unser limbisches System an (das Zentrum für Emotionen und Motivation; Bear et al. 2007), beeinflussen Körperhaltung, Atmung und Mimik und sind so als eine Ressource nutzbar (Storch et al., 2006). Unter Ressource kann bekanntlich viel verstanden werden. In diesem Kontext wird die neurobiologische Ressource adressiert, die zieldienliche neuronale Netze und dadurch entsprechend zieldienliche Glaubenssätze, Körperhaltung etc. aktiviert, um eine gewünschte Handlung zu begünstigen (Storch & Krause, 2002). So wird infolge eines Gefühls eine Handlung möglich. Genau darin liegt die Chance für Klarheit unter Ungewissheit: nicht durch rein kognitives Begreifen, sondern durch multisensorisches Erleben, das ein nachhaltiger Anker für Orientierung ist.
Im Coaching mit Harry war folglich nach der Bildauswahl der nächste Schritt, die Glaubenssätze und die Körperhaltung für die Horror- und Wunschzukunft mit einzuschließen. Ein verspannter Kiefer, hoher Muskeltonus im Oberarm und Oberschenkel sowie angestrengte Augen zeichneten den Horror-Zustand bei Harry aus, gepaart mit dem inneren Monolog: „Reiß dich zusammen, weiter geht´s!“ Der Ziel-Zustand hingegen war geprägt von „Huch, wow, das könnten wir so weitermachen!“ und einer offenen Haltung, einem weiten Blick und entspannten Schultern. Im Coaching nahm er bewusst beide Zustände, den blockierenden und den gewünschten Zustand, zeitlich hintereinander sowohl körperlich als auch geistig ein. Aufgrund der Neuroplastizität des Gehirns wird so der blockierende Zustand zur Erinnerungshilfe für den Ziel-Zustand. Den Übergang vom blockierenden zum zielführenden Zustand trainierte er bewusst zu Hause durch mehrfaches bewusstes, ganzheitliches Einnehmen der beiden Zustände.
Für nachhaltiges Self-Leadership braucht es daher:
- Keine starren Ziele, sondern lebendige, spürbare Bilder von Horror- und Wunsch-Zuständen
- Multisensorische Erinnerungen: Bilder, Gesten, Glaubenssätze für Ziel- und Horror-Zustände
- „Neuronales Umbauen“: Bewusstes, ganzheitliches Eintauchen zuerst in den blockierenden Zustand und anschließend in den zieldienlichen Zustand, wodurch aufgrund der Neuroplastizität neue neuronale Gewohnheiten entstehen (Storch & Krause, 2002).
Wie Sie Ungewissheit im Alltag meistern können
Besonders hilfreich sind kleine Erinnerungshilfen für den Alltag, z. B. Gegenstände oder Bildkarten, die blockierende und zieldienliche Zustände symbolisieren. Ein anderer Klient von mir nutzte ein Stück Frischhaltefolie als Symbol für Enge und das Gefühl, „keine Luft zu bekommen“, während ein Stück Holz ihn an Freiheit und Natur erinnerte. Er trug die beiden Gegenstände in der linken und rechten Hostentasche und berührte sie dadurch im Alltag immer wieder unabsichtlich. Das war wie ein Weckruf zur bewussten Wahrnehmung, in welchem Zustand er sich gerade befindet, und ermöglichte ihm, sich aktiv zu entscheiden, welchen er jetzt leben möchte. Diese einfachen „Anker“ seien es Gegenstände oder Bildkarten, die ich meinen Klient*innen für zu Hause mitgeben kann, helfen im Alltag dabei, trotz Ungewissheit handlungsfähig und klar zu bleiben.
Weiterführende Literatur & Quellen
- Bear, M. F., Connors, B. W., & Paradiso, M. A. (2007). Neuroscience: Exploring the Brain (3rd ed.). Lippincott Williams & Wilkins.
- Schmidt, G. (2004). Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Carl-Auer.
- Storch, M., Cantieni, B., Hüther, G., & Tschacher, W. (2006). Embodiment: Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen. Bern: Huber.
- Storch, M., & Krause, F. (2002). Selbstmanagement – ressourcenorientiert: Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM). Bern: Huber.
- Storch, M., & Krause, F. (2014). Selbstmanagement - ressourcenorientiert. Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) [Resource oriented self management. Principles and training manual of the Zurich Resource Model (ZRM)] (5th rev. ed.). Bern, CH: Huber.
- Wasserbauer, J. (2025): Das Systemische KartenSet: Blockaden visualisieren – Ressourcen aktivieren. managerSeminare Verlag.
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