Führung in der Pandemie: Wenn alte Regeln nicht mehr gelten

Funktionierende Organisationen haben klare Leitlinien für Führungshandeln und Compliance. Doch in einer Krisensituation kann es für das Überleben einer Organisation wichtig sein, Entscheidungen zu treffen, die von diesen Regeln abweichen. Welche Dilemmata dies für Führungskräfte erzeugt, zeigte sich mit Beginn der Corona-Pandemie.

Entscheidungen unter Unsicherheit treffen, bei Regelverstößen disziplinarische Maßnahmen durchsetzen – Führungskräfte sind dies gewohnt. Aber wie gingen sie während der Pandemie mit teilweise widersprüchlichen Erwartungen um? In einem explorativen Forschungsdesign wurden 25 Personen zu ihrem Führungsverhalten am Anfang der Corona-Krise befragt. Sie beschrieben, was ihnen Orientierung gab und wie sie Regelbrüche in Kauf nahmen, um handlungsfähig zu bleiben.

Entscheiden unter Unsicherheit als Führungsaufgabe

Auch in Ausnahme- und Dilemmasituationen müssen Führungskräfte Entscheidungen herbeiführen. Dabei orientieren sie sich an formalen Regeln, an der Organisationskultur, am aktuellen Wissensstand oder auch an ihrer Erfahrung und Intuition. In Krisensituationen können Regeln die funktionale Bewältigung unvorhergesehener Situationen behindern. Eine mögliche Konsequenz ist die „brauchbare Illegalität“, worunter Niklas Luhmann Handlungen innerhalb einer Organisation versteht, die zwar die formalen Regeln der Organisation verletzen, aber für die Zielerreichung der Organisation als nützlich gelten (Luhmann, 1964; Kühl, 2020). Die Corona-Krise wirft nun ein neues Licht auf Führung hinsichtlich des konstruktiven Dilemma-Managements und der brauchbaren Illegalität.

Die unausweichlichen Dilemmata des Entscheidens

Bei einem Führungsdilemma muss eine Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen und gegensätzlichen Alternativen getroffen werden (Neuberger, 2020). Drei Dilemmata, die mitunter die „inneren Grenze“ dessen verschoben, was als funktional und „legal“ eingeschätzt wurde, erwähnten die befragten Führungskräfte am häufigsten: Vertrauen versus Kontrolle, Konformität versus Risikoaffinität sowie Transparenz versus Inszenierung.

Vertrauen versus Kontrolle

Für Führung bedeutet Vertrauen, Nichtwissen über die eigene Wirksamkeit, die Funktionsfähigkeit der Organisation, deren Strukturen und Mitglieder zu akzeptieren. Kontrolle hingegen heißt, sich Wissen über Personen, Ereignisse, Strukturen etc. in Absicht auf Steuerung aktiv zu beschaffen, was in der Pandemie für viele Führungskräfte schwierig war. Die Mitarbeitenden waren nicht mehr vor Ort und die informelle Beziehungsgestaltung, z. B. in der Kaffeepause, fiel weg. So konnten Mitarbeitende in fachlicher und persönlicher Hinsicht nicht mehr gut eingeschätzt werden. Manche Führungskräfte setzten auf die „harte Schule des Vertrauens“ trotz Unbehagen und Unsicherheit, andere verstärkten die Kommunikation, v. a. online, zu Vertrauensaufbau und Kontrolle.

Zentral wurde das Führen von Gesprächen mit Ruhe und Zeit. Die eigenen Kontrollwünsche und Kontrollpflichten mussten zugunsten der Autonomie des Personals unterdrückt werden, auch mangels Zeit oder technischer Möglichkeiten. Unternehmen mit einer bereits etablierten Vertrauenskultur fiel ein konstruktiver Umgang mit dieser Situation leichter.

Konformität versus Risikoaffinität

Führungskräfte standen vor Entscheidungen, für die es keine funktionalen Orientierungsregeln mehr im Unternehmen gab. Sollte lieber an Bekanntem festgehalten werden, oder sollten neue Freiräume kreativ genutzt werden? Ein Ansatz war hier, Veränderungen proaktiv mitzugestalten. Vermeintliche Sicherheit war angesichts unvorhersehbarer Konsequenzen nicht möglich, Entscheidungen wurden ad hoc getroffen, auch wenn sie nicht dem bestehenden Regelwerk entsprachen.

„[…] es war relativ schnell klar, dass wir erfinderisch sein müssen, dass uns jetzt nicht jemand vorgibt, was immer zu machen ist.“ (Carina, Schulleiterin, Privatschule)

Die Pandemie fordert viele unternehmerisch riskante Entscheidungen, was Ängste hervorrufen und übersteigerte Rückversicherungsbemühungen anstoßen kann. Daneben gibt es aber auch Führungskräfte, die sich besonnen mit ihrer Angst auseinandersetzen und dabei neue Wege finden. Idealerweise sind sie den Beschäftigten in der Bewältigung einen Schritt voraus und unterstützen bei der Verarbeitung der Krise.

Frau sitzt am Schreibtisch vor einem Videochat.

Die Pandemie rief in vielen Unternehmen Ängste hervor, doch ebenso kreatives Denken und wirksame Wege der Bewältigung. (Foto: master1305 – AdobeStock)

Transparenz versus inszenierte Sicherheit

In der Corona-Krise waren realistische Risikoeinschätzungen unmöglich, weil klassische Leitplanken (Expert:innen, die Unternehmensspitze, Erfahrungen) keinen Halt mehr gaben. Dies stellte die Führungskräfte vor das Dilemma: Wie viel dieser Unberechenbarkeit sollte transparent mitgeteilt werden? Wann wiederum ist es funktionaler, Sicherheit vorzuspielen und Themen zu verschweigen? Gefragt war die Balance zwischen einer transparenten Kommunikation, in der auch Unsicherheit und Unwissenheit mitklingen, und der Inszenierung von Sicherheit, um den Erwartungen der Mitarbeitenden nach Orientierung gerecht zu werden.

„Und das ist natürlich ein schwieriger Balanceakt auch für uns zu entscheiden, wo vermitteln wir eine Sicherheit, die es vielleicht auch gar nicht gibt.“ (Inga, Teamleitung Beratungsbranche)

Organisationen mit einer stark ausgeprägten Wertschätzungs- und Beziehungskultur können anscheinend diese Balance besser halten. Das Gleiche gilt für Unternehmen, die Veränderung und Unbekanntes positiv bewerten, weil sich die Führungskräfte die Verantwortung für nicht regelkonforme Entscheidungen mit ihrer Organisation teilen.

Anstelle eines Krisenleitfadens

Klare Leitplanken für Führungshandeln und Compliance sind für funktionierende Organisationen von hoher Bedeutung. In Krisensituationen kann es jedoch für das Überleben der Organisation wichtig sein, Entscheidungen entgegen den Vorgaben zu treffen. Wie muss ein Regelwerk aussehen, das kreatives Handeln bei Entscheidungen ermöglicht und unterstützt? Eine hohe Identifikation der Führungskraft mit den Zielen der Organisation und eine Kultur, die Verantwortungsübernahme für Entscheidungen fördert, Innovationen schätzt und Vertrauen vermittelt, scheinen gut für die Krisentauglichkeit von Organisationen zu sein. Den Mut zu neuen Wegen finden v. a. Führungskräfte, die geübt sind, unter Unsicherheit zu entscheiden, und die die Leerstellen der Kommunikation und die Zufälligkeit des Alltags kreativ zu füllen wissen.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version des ursprünglich in der WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE aktuell erschienenen Artikels: Schenk, M., Kasiske, J., Haunhorst, H., Klaußner, S. & Kasiske, A. (2021). Handeln und Entscheiden in der Corona-Krise: Compliance ade? Wirtschaftspsychologie aktuell, 4/2021, S. 38-43.

Literatur

[Werbung] Kühl, S. (2020). Brauchbare Illegalität: Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Campus Verlag.

[Werbung] Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation (Vol. 20). Berlin: Duncker & Humblot.

[Werbung] Neuberger, O. (2002). Führen und führen lassen. Stuttgart: Lucius & Lucius.

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