„Man muss Veränderungen einfordern, sie kommen nicht von selbst“

Obwohl Frauen mehr als die Hälfte der Menschheit bilden und in Schule und Studium bessere Noten erlangen, werden Führungs- und Schlüsselpositionen überproportional häufig mit Männern besetzt. Dr. Sigrid Nikutta, Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn AG, Vorstandsvorsitzende der DB Cargo und promovierte Psychologin, berichtet im Interview von ihren Erfahrungen und Erkenntnissen als Frau in der Führungswelt. 

Frau Dr. Nikutta, Sie sagen, dass „Teamwork“, „Diversität“ und „Frauen in Führungspositionen“ für Sie nicht bloß Schlagwörter sind. Was meinen Sie damit? 

In der Welt des Managements gibt es gewisse Quoten und Trends, derzeit sind die Stichworte „Diversität“ und „Frauenförderung“ sehr präsent. Schaut man genauer hin, handelt es sich jedoch häufig nur um Schlagworte und die Realität sieht ganz anders aus. Da besteht noch enormes Veränderungspotenzial, das ist genau mein Thema. 

Was spricht für die Besetzung von Führungspositionen mit Frauen? 

Alles. Mehr als die Hälfte der Menschheit ist weiblich, somit sollte zumindest die Hälfte aller Führungspositionen weiblich besetzt sein. Wenn es bei der Führungskräfteauswahl nur auf die Leistung ankäme, wie ja gern behauptet wird, dann müssten Frauen sogar in der Überzahl sein. Schließlich erreichen sie in der Schule und auch im Studium gewöhnlich die besseren Abschlüsse. In unserer Welt hingegen sind wir weit davon entfernt, dass Frauen mehrheitlich an Schlüsselpositionen sitzen.  

Sind Frauen die besseren Führungskräfte? 

 Es gibt ausreichend wissenschaftliche Evidenz für den Erfolg von weiblichen Führungskräften. Aber ich will gar keine Männer-Frauen-Welt aufmachen. Mir geht es darum zu sagen, sowohl geschlechts- als auch herkunfts- als auch altersheterogene Teams spiegeln unsere Gesellschaft am besten wider. Die Forschung zeigt, dass mit heterogenen Führungsteams auch die wirtschaftlichen Ergebnisse besser ausfallen als mit homogenen Teams. Doch aufgepasst: Diversität darf Parität nicht überlagern. Oft passiert es, dass Diversität gepredigt wird, während Parität gar nicht stattfindet. Da muss man aufpassen, denn Parität ist die Basisnotwendigkeit für Vielfalt.  

Warum werden Führungspositionen häufiger mit Männern besetzt? 

Das Ähnlichkeitsprinzip in der Psychologie besagt, dass Ähnlichkeit attraktiv macht. Das hat Einfluss auf das attribuierte Leistungsvermögen und ist aus meiner Sicht der Hauptgrund dafür, dass Führungspositionen eher mit Männern besetzt werden. 

Aber natürlich spielen auch selbsterfüllende Prophezeiungen eine Rolle. Zudem sind Karrierewege sehr unterschiedlich und unterschiedlich mit Dornen behaftet. Doch auch hier zeigt die wissenschaftliche Evidenz, dass weibliche Karrieren mit deutlich mehr Widerständen aufwarten als männliche Karrieren. Am Ende macht das weibliche Führungskräfte erfolgreicher, weil sie schon ausreichend Erlebnisse hatten, in denen sie unterschätzt oder ausgegrenzt wurden. Diese Lebenserfahrungen können sich Frauen zunutze machen. 

Porträt von Dr. Sigrid Nikutta

Im Gespräch mit Dr. Sigrid Nikutta (Foto: Deutsche Bahn AG)

Haben Sie selbst im Laufe Ihrer bisherigen Karriere Diskriminierung oder Vorurteile erlebt? 

Natürlich bin ich oft auf maximale Verwunderung gestoßen, dass ich als Frau diesen Job machen möchte, als eine Frau mit Kindern, eine Frau mit mehreren Kindern. Diskriminierung muss man in solchen Fällen erkennen und dann dagegenhalten. Als ich z. B. Vorstand in Polen werden wollte, in der Zeit aber ein kleines Kind hatte, wurde mir gesagt, dass das definitiv nicht funktioniere. Meine Antwort: „Die Tatsache, dass ich ein kleines Kind habe, hindert mich am Denken?“ Wir müssen die Mechanismen im Kopf, denen zufolge jemand mit Kindern nicht an einem anderen Ort arbeiten kann, mit der Realität abgleichen. 

Nicht selten habe ich auch das Argument gehört, man wolle mich vor mir selbst schützen, was eine doppelte Diskriminierung ist. Denn hinter dieser entmündigenden Aussage steckt ein paternalistischer Gedanke. 

Hat Ihnen Ihr psychologisches Wissen geholfen, trotz Vorurteilen nach oben zu gelangen? 

Psychologisches Wissen hilft dabei, das Leben klar zu strukturieren und sich selbst zu planen und zu motivieren. Es macht mich auch gnädig, weil ich auf die psychologischen Mechanismen und die Antriebsmotivation meines Gegenübers schauen und erkennen kann, wenn die andere Person nichts für ihre Denkmuster kann. Damit kann ich viel desavouieren und mit Humor nehmen. 

Was können Frauen in einem männlich dominierten Arbeitsumfeld bewirken? 

Unter den Frauen im Management nehme ich eine große Solidarität wahr. Man versucht, einander zu unterstützen. Gerade in neuen Situationen haben mir Frauen dabei geholfen, die Dos und Don'ts zu erkennen, und haben mich mit den einschlägigen Menschen bekannt gemacht. Dafür bin ich dankbar und versuche das weiterzugeben, indem ich Frauen unterstütze, die in Führungspositionen kommen. Mit Netzwerken und Tipps hinsichtlich Kontakten und Veranstaltungen. Das ist für mich die große Mission, denn der Bedarf ist klar vorhanden, auch wenn gerade jüngere weibliche Führungskräfte das häufig unterschätzen. 

Was braucht es, damit qualifizierte Frauen die gleichen Chancen auf Führungspositionen haben wie Männer? 

Zum einen diese Selbstverständlichkeit und zum anderen klare Ziele. Reden allein verändert die Welt leider nur begrenzt, daher benötigen wir klare Leitplanken. Bei der Bahn haben wir deutliche Zielvorgaben gemacht und bereits die Zielmarke, bis Jahresende 30% der Managementstellen mit Frauen zu besetzen, erreicht. Das neue Etappenziel bis 2035 lautet: 40 % Frauen in Führung. Langfristig wollen wir Parität. Es gibt tatsächlich auch viele männliche Kollegen, die auf Vereinbarkeit eingehen, die Selbstverständlichkeit nimmt zu. 

Schließlich ist die Vereinbarung von Beruf und Leben ein Menschheits- und kein Frauenthema. Ohne die Selbstverständlichkeit, dass man als Mann und als Frau Familie und Beruf vereinbaren kann, haben wir dem demografischen Wandel nichts entgegenzusetzen. Alle wollen, dass Menschen Kinder bekommen und eine Familie haben. Deshalb ist auch Kinderbetreuung keine soziale Wohltat, sondern ökonomisch erforderlich für unsere Gesellschaft. Bei Bewerbungsgesprächen sage ich Bewerbenden immer, egal ob Mann oder Frau, dass ich es in Ordnung finde, wenn sie Kinder bekommen. Da werde ich immer sehr groß angeguckt, weil Kinder und Arbeit nicht kompatibel wirken. Aber es muss kompatibel werden. 

Ich finde es schrecklich, dass Begriffe wie Vereinbarkeit immer mit Frauen verknüpft werden: „Wir brauchen eine bessere Kinderbetreuung, damit mehr Frauen arbeiten.“ Nein, wir brauchen eine gute Kinderbetreuung, damit jeder Mann und jede Frau sich beruflich so engagieren kann, wie er und sie es möchte! Das ist heute reihenweise nicht der Fall. Man muss die Veränderungen, die selbstverständlich sein sollten, einfordern, sie kommen nicht von selbst. 

Wie kann man Vorurteile gegenüber weiblichen Führungskräften abbauen? 

Indem man sich ihrer bewusst wird, um sie anderen vor Augen führen zu können. Wir müssen die Mechanismen transparent machen, die zu Vorurteilen führen, erst dann kann man ihnen entgegenwirken.  

Viele Mechanismen, die zu weiblichen und männlichen Stereotypen führen, stammen aus der Steinzeit. Gegen ein Mammut hat ein großer, kräftiger Mann im Zweifelsfall die Sippe besser verteidigt als eine kleine Frau. Wir sind aber längst aus der Steinzeit raus.  

Was erwarten Sie für die Zukunft? 

Ich erwarte, dass immer mehr Frauen in Führungs- und Schlüsselpositionen von großen Unternehmen gelangen und dass in den Aufsichtsräten Frauen den Vorsitz erhalten, genauso in den Personalausschüssen. Dabei geht es nicht nur um eine numerische Stärkung, sondern auch um eine inhaltliche Stärkung der Frauen in Führungspositionen. 

Wir danken Ihnen für das Gespräch! 

 

Wir sprachen mit: 

Dr. Sigrid Nikutta ist seit dem 1.1.2020 Vorstand Güterverkehr der Deutschen Bahn AG und gleichzeitig Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG. Zuvor war sie fast zehn Jahre lang Vorstandsvorsitzende der Berliner Verkehrsbetriebe und führte das Unternehmen erstmals in die schwarzen Zahlen. Von 1996-2010 war sie bei der DB AG in verschiedenen Leitungsfunktionen tätig. Dr. Sigrid Nikutta studierte Psychologie und promovierte 2009 an der LMU München. Weiterhin ist sie im Präsidium des Verbands der Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI), Vorsitzende des Kuratoriums des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) sowie Aufsichtsratsmitglied der Knorr-Bremse AG. 

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