Zwischen Weihnachten und Zuckerfest: Religiöse Vielfalt am Arbeitsplatz
Haben Sie muslimische Mitarbeitende oder Vorgesetzte in Ihrer Belegschaft? Dann haben Sie sich vielleicht auch schon einmal die Frage gestellt, ob Sie ihnen beispielsweise „Frohe Weihnachten“ wünschen können. Wirtschaftspsychologie aktuell sprach mit Coach und Diversity-Trainerin Dr. Beyhan Şentürk, um dieser und anderen Fragen auf den Grund zu gehen.
1. Sie arbeiten als systemische Coachin sowie Diversity-Trainerin. Wie sind Sie zu diesen Bereichen gekommen?
Die einfache Antwort: Durch ein entsprechendes Studium – Politikwissenschaften sowie Islamwissenschaften, inklusive Auslandstudium und anschließend Jobaufenthalte im arabischen Raum. Später habe ich berufsbegleitende Ausbildungen als zertifizierte Coach und Diversity-Trainerin absolviert. Die etwas komplexere Antwort: Als politisch denkender Mensch habe ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, den ich nicht nur im Privaten lebe, sondern auch in den Beruf einbringe. Mein Motto lautet „Eine bessere (Arbeits)Welt ist möglich!“
2. Welche Beobachtungen konnten Sie selbst in Ihrem Berufsleben beim Umgang mit muslimischen Mitarbeitenden machen?
Aufgrund meines Nachnamens werde ich oft als Türkin – und damit auch als Muslimin – gelesen. Ob ich mich mit diesen Zuschreibungen identifiziere, werde ich vielfach nicht gefragt. Ich hatte mal eine Vorgesetzte, die überzeugt war, dass ich einen „blumigen Schreibstil“ habe. Dabei hatte sie noch nie einen Text von mir gelesen, als sie diese Annahme äußerte. Sobald die Menschen erfahren, dass ich mit einer Frau verheiratet bin, findet eine ganz andere Zuschreibung statt. Ich gelte als liberale Muslima. Das wird häufig als Kompliment verstanden, was mich nicht ehrt, sondern oft ärgert. Die vermeintliche Aufwertung meiner Sexualität führt implizit zu einer Abwertung jener Muslim:innen, die ein heteronormatives Leben führen. Es findet eine Einteilung statt in „gute Muslime – problematische Muslime“. Das finde ich schwierig. Zumal Menschen, die sich als LGBTIQ+ identifizieren, es in der deutschen Arbeitswelt nach wie vor schwer haben.
Muslim:innen sind sehr unterschiedlich und machen alle möglichen Erfahrungen im Berufsleben. Je nach Branche und Sichtbarkeit können das positive wie negative Erfahrungen sein. In großen Unternehmen, die international aufgestellt sind, scheint es konfliktfreier zu sein für Muslim:innen und Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden. Anerkennung und Wertschätzung ist damit noch nicht garantiert. Ein repräsentativer Raum für Meditation und Gebet ist auch dann noch kein Automatismus. Auch macht es einen Unterschied, wie die potenzielle Kundschaft aufgestellt ist. Sind Patient:innen, Klient:innen und Kund:innen zu einem deutlichen Teil muslimisch, wird es auch leichter für Angestellte, die sich zum Islam bekennen.
Besonders herausfordernd ist es für Frauen, die als Teil ihrer Religionspraxis ein Kopftuch tragen: Mit oder ohne Foto – damit fängt für viele Musliminnen noch vor der Bewerbung der emotionale Stress an, der für Menschen ohne religiöse Kleidung entfällt. Durch ihre Bekleidung werden sie besonders sichtbar. Diese Sichtbarkeit kann für Irritationen sorgen, da wir uns als säkularisierte Gesellschaft verstehen und Religionen für weitgehend bedeutungslos halten. Weit gefehlt! Gerade jetzt im Advent mit den Weihnachtsfeiern in Büros und Betrieben müsste uns auffallen, wie sehr uns Religionen prägen – nur fehlt uns oftmals das Bewusstsein dafür.
3. Oft besteht die Sorge, bei muslimischen Mitarbeitenden oder Vorgesetzten in ein Fettnäpfchen zu treten. Da geht es z. B. darum, ob ich ihnen frohe Weihnachten wünschen kann. Was würden Sie raten?
Da hilft nur eins: Legen Sie sich ein solides Basiswissen über verschiedene Glaubensrichtungen an, auch über den Islam. Es gibt viele kostenfreie und qualitativ hochwertige Ressourcen, die Sie nutzen können, um sich über Glauben und Religionspraxis zu informieren. Sie können z. B. die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen nutzen oder die Website der Bundeszentrale für politische Bildung besuchen. Falls Sie sich auf sozialen Medien bewegen, verwenden Sie einen Teil Ihrer Zeit darauf, entsprechenden Fachleuten zu folgen. Das ist eine gute Voraussetzung für einen vertrauensvollen und vermittelnden Dialog zu zweit oder im Team.
Ihr Basiswissen wird Ihre Angst vor Fettnäpfchen reduzieren, denn Sie werden schnell feststellen, dass es nicht den Islam gibt, sondern sehr viele verschiedene Spielarten und Lebensweisen. Und falls Sie doch mal im Fettnäpfchen landen: Seien Sie nachgiebig mit sich – solange es um aufrichtiges Interesse auf Augenhöhe geht, wird Ihr Gegenüber auch nachsichtig mit Ihnen sein.
Vor diesem Hintergrund: Wie so oft im Islam gibt es keine einfache oder eindeutige Antwort. Bei weltweit knapp zwei Milliarden Muslim:innen gibt es je nach Kontext und Religiosität unterschiedliche Interpretationen. Meine Haltung zu dieser Frage ist: In Deutschland, Europa und muslimisch geprägten Ländern mit christlichen Minderheiten ist es grundsätzlich in Ordnung, Muslim:innen „Frohe Weihnachten“ zu wünschen. Die wenigsten Menschen werden es als religiöse Vereinnahmung verstehen und gekränkt reagieren. Ich denke, die meisten Muslim:innen werden es als einen freundlichen Abschiedsgruß bzw. einen guten Wunsch für eine gute Zeit hören.
Entscheidend finde ich hier die Tonlage. Eine positive Absicht klingt anders („Ich wünsche Dir und Deinen Lieblingsmenschen viele schöne Momente!“) als eine Machtdemonstration („Wir sind in einem christlichen Land. Pass Dich gefälligst an!“). Wer auf Nummer sicher gehen will, lässt das Wort „Weihnachten“ weg und wünscht „Schöne Feiertage“ oder „Happy Holidays“. Immerhin sind in Deutschland gesetzliche Feiertage. Die meisten Menschen haben frei und auch Muslim:innen genießen diese Phase im Jahr als Familienzeit. Sie werden sich durch einen solchen Wunsch angesprochen fühlen. Und: Diese Grußformel schließt weitere Gruppen mit ein – Atheist:innen, orthodoxe Christ:innen, Weihnachtsmuffel.
4. Welchen religiösen Verpflichtungen unterliegen praktizierende Muslim:innen, die sich auf die Arbeit auswirken können?
Diese einfache Frage braucht eine komplexe Antwort - was verstehen wir unter „praktizierend“? In der gelebten Praxis gibt es eine große Vielfalt der Religiosität: Es gibt Menschen, die sich als muslimisch begreifen und mit Kolleg:innen über den Weihnachtsmarkt schlendern, um ein oder zwei Glühwein zu genießen. Andere würden die Betriebsfeier freundlich absagen, weil sie den Alkoholausschank problematisch finden, aber gleichzeitig wegen dieser Absage Missverständnisse und Ablehnung fürchten.
Die islamische Theologie erlaubt eine weite Spannbreite der Interpretationen, was Wissen und Eigenverantwortung von den Gläubigen voraussetzt: So kann beispielsweise das rituelle Gebet – was im Laufe eines Tages fünfmal verrichtet werden sollte – auch auf einen Zeitpunkt nach der Arbeit verschoben werden.
Mein Tipp: Nachdem Sie sich ein Basiswissen angeeignet haben, signalisieren Sie Offenheit für ein Gespräch über weltanschaulich-religiöse Fragen und machen als Führungskraft klar, dass Sie es als eine Ihrer Management-Aufgaben verstehen, für ein vertrauensvolles Miteinander zu sorgen, sodass auch religiöse Vielfalt am Arbeitsplatz gelingen kann. Auf diese Weise schaffen Sie eine diversitätssensible Atmosphäre, in der die Mitarbeitenden auf Sie zukommen und auch eher private Themen wie religiöse Bedarfe ansprechen.
5. Wie können Arbeitgebende und Mitarbeitende hier zu Lösungen kommen, die beiden Seiten gerecht werden?
Nach der Lösung suchen – und nicht nach dem Problem. Denn, so eine Coaching-Binsenweisheit, die Lösung interessiert sich nicht für die Ursachen des Konfliktes. Dazu die Belegschaft einbinden. Die kennen den Betrieb und ihre Bedarfe und haben mit Sicherheit kreative Vorschläge in petto. Suchen Sie frühzeitig den Dialog. Und wechseln Sie mal die Perspektive: Wie wäre ein Betriebsausflug zum Kochstudio – um als Team im muslimischen Fastenmonat Ramadan einmal gemeinsam (symbolisch) mit einem Abendessen das Fasten zu brechen? Lassen Sie sich von den Ideen und Vorschlägen Ihres Teams überraschen.
6. Wie stellen Sie sich die ideale Arbeitswelt mit all ihrer menschlichen Vielfalt vor?
Ideal ist die Arbeitswelt für mich, wenn alle Beschäftigten ihre Energien auf die Arbeit verwenden können und nicht damit abgelenkt sind, ihr wahres Selbst zu verstecken. Beim Firmenjubiläum sitzt die Geschäftsführerin neben ihrer Ehefrau; Väter terminieren Besprechungen in der Kernarbeitszeit; die Teamleiterin bekreuzigt sich in der Kantine, bevor sie ihre Spaghetti aufgabelt. Die Arbeitswelt ist vielfältig. Vielfalt ist nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Die Frage ist eher, wie es uns gelingt, unterschiedliche Kompetenzen, Biografien und Perspektiven als gleichwertig anzuerkennen und zu nutzen. Ideal wird diese Arbeitswelt aus meiner Sicht, wenn die Menschen ihr volles Potential entfalten. Das geht nur über den Weg der Anerkennung und Wertschätzung unserer Unterschiedlichkeiten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wir sprachen mit:
Dr. Beyhan Şentürk ist systemische Coach sowie Diversity-Trainerin. Am liebsten spricht sie über muslimische Lebenswelten in Deutschland und Europa; am zweitliebsten über antimuslimischen Rassismus. Als Coach ist Dr. Beyhan Şentürk spezialisiert auf Führungskräfte und Menschen, die sich dorthin entwickeln möchten, insbesondere jene mit Rassismuserfahrungen. Zuvor war die promovierte Politikwissenschaftlerin als Fach- und Führungskraft für eine politische Stiftung auf verschiedenen Posten tätig, vor allem im internationalen Bereich. Sie hat u. a. die Niederlassung in den Palästinensischen Gebieten am Standort Ost-Jerusalem geleitet.
Weiterführende Infos gibt es auf:
www.beyhan-sentürk.de
www.dbvc.de/mitglieder/detail/beyhan-sentuerk
www.iobc.org/de/coaches/detail/beyhan-sentuerk
www.linkedin.com/in/beyhan-sentürk/
(Interview: Anja Wermann, Redaktion WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE aktuell)
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