Zoom-Fatigue: Onlinemüdigkeit im Homeoffice
Seit Beginn der Pandemie ist oft der einzige Raum für Interaktion: der Bildschirm. Virtuelle Interaktion kann für unser Gehirn extrem anstrengend sein. Schlafstörungen, Magenschmerzen oder Motivationslosigkeit sind Anzeichen für Onlinemüdigkeit. Warum Videokonferenzen so belastend sind und was Sie tun können, wenn Sie davon betroffen sind.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis unsere veränderten Lebensrealitäten neue Belastungsfaktoren zu Tage fördern: Zoom-Fatigue, digitales Erschöpfungssyndrom oder auch Onlinemüdigkeit. Die beispiellose Explosion des Einsatzes von Google Hangouts, Microsoft Teams und Co. als Reaktion auf die Pandemie hat ein inoffizielles soziales Experiment gestartet, das auf Bevölkerungsebene zeigt: Virtuelle Interaktionen können für unser Gehirn extrem anstrengend sein.
Die neue Arbeitswirklichkeit: Homeoffice
Vor der Pandemie galt das Homeoffice für viele Arbeitnehmer*innen als Verlockung: eine günstigere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Ersparnis der Fahrzeit und kein Stress im Berufsverkehr, kein Dresscode, Selbstbestimmung in der Arbeitszeiteinteilung. Auch auf Seiten der Arbeitgeber*innen waren die Hoffnungen groß: Kostenersparnis durch weniger Bürofläche, höhere Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und geringere Ausfallzeiten.
Innerhalb eines Jahres wurden viele in eine neue Arbeitswirklichkeit katapultiert, so auch mein Patient Henri M., 42 Jahre, verheiratet, zwei Töchter (13 und fünf Jahre alt), Abteilungsleiter in der öffentlichen Verwaltung einer westdeutschen Großstadt. Da er 30 km in seine Behörde pendeln musste, war das Homeoffice zunächst eine willkommene Abwechslung. Als er ab Herbst wieder vermehrt von zuhause arbeiten musste, nahmen die Symptome, die er schon im Frühjahr verspürt hatte, zu: Magenschmerzen, Schlafstörungen, zeitweise Sehstörungen. Antrieb und Motivation nahmen immer weiter ab: „Ich habe mich zunehmend wie ein Zombie gefühlt. Ich war zwar physisch für meine Familie präsent, jedoch trotzdem nicht ansprechbar.“
Was belastet so sehr an der neuen Kommunikation?
Eine Studie des Instituts für Beschäftigung und Employability (ibe) unter der Leitung von Prof. Dr. Jutta Rump hat nach Antworten gesucht. An der Befragung im Dezember 2020 haben 422 Geschäftsführer*innen, Führungskräfte, Personalleiter*innen, Personalfachleute, Betriebs- und Personalräte sowie HR-Expert*innen teilgenommen. 62,4 % der Befragten berichteten von Zoom-Müdigkeit.
70% der Befragten, die Zoom-Müdigkeit bei sich wahrnahmen, identifizierten fehlende nonverbale Hinweise als Belastungstreiber, wobei ca. 45 % explizit das Fehlen von Gestik und Mimik als belastenden Faktor benannten. Rund 52 % vermissten den Small Talk und das Netzwerken. Weitere Belastungsfaktoren: weniger Gesprächsfluss aufgrund von Zeitverzögerungen, erhöhte Anstrengung zur Konzentration aufgrund schlechter Tonqualität oder Frustration aufgrund instabiler Internetverbindung sowie der starken Versachlichung virtueller Meetings. Summa summarum wirkt scheinbar die fehlende menschliche Interaktion als der wichtigste Belastungstreiber.
Mimik und Gestik werden nicht wahrgenommen
Handgesten, Mikroausdrücke, Unterkörpersprache - diese Hinweise helfen dabei, ein ganzheitliches Bild davon zu zeichnen, welcher Inhalt vermittelt und was als Antwort erwartet wird. Bei Videoanrufen ist dies viel schwieriger, denn all diese Dinge sind kaum zu lesen. Videoanrufe beeinträchtigen also tief verwurzelte Fähigkeiten und erfordern stattdessen anhaltende und intensive Aufmerksamkeit für die Worte der Gesprächspartner*innen.
Mehrpersonenbildschirme vergrößern diese Problematik. Die Galerieansicht zwingt unser Gehirn, viele Menschen gleichzeitig zu entschlüsseln, so dass niemand sinnvoll durchkommt, nicht einmal der/die Sprechende. Für manche Menschen erzeugt die anhaltende Spaltung der Aufmerksamkeit das irritierende Gefühl, ausgelaugt zu sein, ohne etwas erreicht zu haben. Das Gehirn wird von ungewohnten überschüssigen Reizen überwältigt, während es sich auf die Suche nach nonverbalen Hinweisen konzentriert, die es nicht finden kann.
Der Bildschirm als einziger Raum für Interaktion
In einem Interview mit der britischen BBC fasste es der Verhaltensforscher Gianpietro Petriglieri wie folgt zusammen: „Die meisten unserer sozialen Rollen spielen sich an verschiedenen Orten ab, aber jetzt ist der Kontext zusammengebrochen. Wir sind in unserem eigenen Raum eingesperrt, im Kontext einer sehr bedrohlichen Krise, und unser einziger Raum für Interaktion ist ein Bildschirm.“
Die Selbstkomplexitätstheorie, ein von Patricia W. Linville 1985 formuliertes Konstrukt, geht davon aus, dass Individuen kontextabhängige soziale Rollen, Beziehungen, Aktivitäten und Ziele haben. Selbstkomplexität kann wie ein kognitiver Puffer funktionieren, der extreme, affektive Schwankungen und die belastenden Wirkungen von Stress abmildert. Werden diese Aspekte reduziert, wie im Homeoffice, werden wir anfälliger für belastende Gefühle.
Zoom macht es vielen noch schwerer, nach der Arbeit „den Stecker zu ziehen“ und Abstand zu finden. In einem Büro können sie die Arbeit verlassen. Arbeitet man von zuhause aus, gibt es keine natürliche Grenze mehr, keinen klar definierten Feierabend, weil jede*r davon ausgeht, dass Videoanrufe eine ständige Option sind. Sie denken ständig an die Arbeit, auch wenn sie nicht arbeiten. Dies kann bis zum Work-From-Home-Burnout (WFH-Burnout) führen.
6 Tipps gegen Zoom-Fatigue
- Reduzieren Sie Multitasking: Während eines Videoanrufs ist es verlockend, ein anderes Fenster aufzurufen und sich mit anderen Arbeiten oder dem Bearbeiten von E-Mails zu beschäftigen. Statt Multitasking macht es aber durchaus Sinn, die Aufmerksamkeit zu 100 % auf den Videoanruf zu richten, bis dieser beendet ist.
- Bauen Sie aktive Pausen ein: Falls Videositzungen länger als eine Stunde dauern, empfiehlt es sich, aktive Pausen in den Sessions zu implementieren, um Energie zu tanken und die kreativen Potentiale wieder zum Fließen zu bringen, gerne auch in Verbindung mit Bewegung, kurzen Yogasequenzen oder Entspannungsübungen.
- Kürzere Einheiten: Es ist sinnvoll, die Dauer der Sessions zu begrenzen. Formate aus dem analogen Leben lassen sich nicht eins zu eins online reproduzieren. Deutlich praktikabler ist es kürzere Einheiten ggf. mit höherer Frequenz einzuplanen.
- Durchmischen Sie die Kommunikationsformen: Ratsam ist es, auf Videokonferenzen ganz zu verzichten, wenn die Kommunikation per Telefonkonferenz oder Telefonat möglich ist, oder einen Mix von Kommunikationsformen zu nutzen. Telefonate sind weniger belastend, da wir uns von vorneherein nur auf Merkmal fokussieren: die Stimme des Gegenübers.
- Kleidung macht Leute: Online gibt es meist keinen klaren Dresscode. Die Kleidung verändert jedoch sowohl die Art und Weise wie Menschen sich fühlen als auch wie sie wahrgenommen werden (Adam & Galinsky, 2012). Die Art der Kleidung vermag die Leistungsfähigkeit zu steigern. Im Gegenzug kann es hilfreich sein, nach der „Zoom-Arbeit“ Freizeitkleidung anzuziehen, um das eigene Stresserleben zu reduzieren. Im Laufe der Zeit ordnet das Unterbewusstsein dann Arbeits- und Freizeitkleidung unterschiedlich zu und versetzt das Gehirn in den "Go" -oder in den "Off" -Modus, sobald man das Outfit wechselt. Auf diese Weise können die Grundprinzipien der klassischen Konditionierung in der Bekämpfung der Zoom-Fatigue nützlich sein.
- Last but not least: Digital detox: der Verzicht auf permanenten Medienkonsum, ständige Erreichbarkeit und nicht enden wollende Push-Nachrichten. Offline bleiben statt „always on“ bleibt die Herausforderung in der Pandemie, um wieder mehr Raum für neue Ideen und Inspirationen entstehen zu lassen.