Zur Passung von Mensch und Beruf: Im Gedenken an Heinz Schuler
Am 3. August 2021 verstarb plötzlich und unerwartet Prof. Dr. Heinz Schuler. Unserem Verlagsteam war er nicht nur als Koryphäe auf dem Gebiet der Personal- und Berufspsychologie bekannt, sondern auch als Autor für unsere Fachzeitschriften und langjähriges, geschätztes Beiratsmitglied des „report psychologie“. Bis zu seiner Emeritierung 2010 hatte Heinz Schuler den Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Hohenheim inne. Daneben war er unternehmerisch und beratend tätig. Mit einem Auszug aus seiner Rede zur Entgegennahme des Deutschen Psychologie Preises 2017 möchten wir an Heinz Schuler und seine wegweisende Pionierarbeit auf dem Gebiet der Berufseignungsdiagnostik erinnern.
"Wir alle, meine Damen und Herren, sind in der glücklichen Situation, erfüllende Berufe zu haben. Weil wir einer Berufstätigkeit nachgehen, die unsere Fähigkeiten fordert, uns Anregungen zu neuen Ideen gibt und auch die Freiheit einräumt, diesen Ideen nachzugehen; weil wir Berufe haben, die unseren Interessen und Werten entsprechen und unser Leben bereichern, die – kurz gesagt – zu uns passen.
Hiervon handelt die Berufseignungsdiagnostik, über die wir heute sprechen wollen, – aber auch von der Kehrseite, davon, wie leicht es ist, mit einem ungeliebten Beruf sein Glück zu verfehlen. Denn es gibt viele Menschen, die in Berufe hineingeraten sind, die nicht zu ihnen passen, oder die aus diesen Beschäftigungen wieder herausgeraten sind, weil sie nicht mehr gebraucht wurden.
Ich habe das Beispiel eines arbeitslosen Gerbers vor Augen, der immer wieder bei der Arbeitsagentur nach einer offenen Stelle fragte. »Nein«, hieß es, »für Gerber sieht es in Deutschland schlecht aus, und es ist auch nichts Ähnliches verfügbar.« Wir, das heißt meine Arbeitsgruppe, haben diesen Mann in ein eignungsdiagnostisches System einbezogen, das wir »Job-Profiling« nannten. Job-Profiling ist ein Algorithmus, in dem einerseits die Anforderungen an Fähigkeiten und Fertigkeiten der wichtigsten Berufe eingespeist wurden.
Die Berufssuchenden oder Stellensuchenden andererseits werden gründlich getestet und befragt. Diese Datensätze werden dann miteinander verglichen. Dabei werden Tausende von Datenpunkten abgestimmt – eine Arbeit, die auch die erfahrensten Berufsberater*innen nicht im Kopf leisten können. Das Ergebnis ist eine Rangreihe von Berufen, in denen sich Personmerkmale und Tätigkeitsanforderungen gut entsprechen.
Unser Gerber ist jetzt Baumarktverkäufer – woran zuvor niemand gedacht hat. Er ist glücklich, mit über 50 noch seine Berufung gefunden zu haben, und auch der Herr Obi ist mit ihm zufrieden.
Berufseignungsdiagnostik
Damit sind wir beim Thema »Wie passen Menschen und Berufe zusammen?« und bei der Berufseignungsdiagnostik, einem Forschungs-Praxis-Geflecht, das dem Lebensglück der Menschen dadurch dienen möchte, dass es ihre Leistung, Zufriedenheit und Gesundheit ebenso unterstützen will wie die Prosperität der Wirtschaft.
Dafür muss ermittelt werden, welche Merkmale für welche Berufe und Tätigkeiten erfolgsrelevant sind. Mit Merkmalen sind vor allem gemeint: Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Verhaltensweisen, Interessen, Motive und Werthaltungen.
Es sind Diagnoseverfahren zu entwickeln, um diese Merkmale zu erfassen, und Messverfahren, um die jeweils erforderlichen Merkmalsausprägungen zu bestimmen – zunächst für Einzelmerkmale, dann für deren Kombination. Die Anforderungen der Tätigkeiten sind zu analysieren und die Eigenheiten der Organisationen zu ermitteln. Prognosemodelle sind zu formulieren, um die beiden Welten zusammenzubringen – die Welt des Menschlichen und die des Beruflichen. Und schließlich sind metrische Indikatoren für die Brauchbarkeit und Generalisierbarkeit des Vorgehens zu gewinnen.
Wenn das alles gelingt, können die Diagnoseverfahren guten Gewissens in der Praxis eingesetzt werden, um für junge Leute die passende Bildung und Ausbildung zu finden, die Berufswahl zu unterstützen, im Verlauf der Berufstätigkeit zu helfen, wirkungsvolle Fortbildungs- und Fördermaßnahmen einzusetzen, Arbeitslose und Minoritätengruppen wieder ins Arbeitsleben zu integrieren und Unternehmen und Behörden zu helfen, die passenden Mitarbeitenden zu finden und auszuwählen.
Wenn die Forschungsarbeit erfolgreich war und die praktische Umsetzung gelingt, ist es vielleicht nicht übertrieben, den amerikanische Kollegen Hogan und Roberts zuzustimmen, die behauptet haben: »Psychological assessment is psychology’s major contribution to everyday life.«
(…)
Methodologische Grundlagen
Weil die Eignungsdiagnostik eine dezidiert empirische Disziplin ist, sollten wir über ein methodisches Prinzip sprechen, das mir sehr am Herzen liegt – das Prinzip der Multimodalität.
Die Kombination unterschiedlicher Modalitäten führt zu besseren Einsichten. Wenn wir nicht nur mit Tests arbeiten, sondern zusätzlich Verhaltensbeobachtungen machen, standardisierte Arbeitsproben einsetzen, Gespräche führen, biografische Daten sammeln, Selbstbeurteilungen durch Fremdbeurteilungen ergänzen, dann erfahren wir mehr über einen Menschen, als wenn wir nur einer dieser Modalitäten vertrauen.
Unser Vorschlag dazu ist das trimodale Konzept der Eignungsdiagnostik. Hierbei wird die Vielfalt der Verfahrenstypen zu drei methodischen Ansätzen gebündelt:
- Eigenschafts- oder Konstruktansatz. Verfahren, mit denen relativ stabile Eigenschaften wie Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten und Werthaltungen gemessen werden. Das sind vor allem Tests, für die in der Psychologie recht ausgefeilte methodische Prinzipien entwickelt wurden.
- Simulationsansatz. Stellt die Teilnehmenden vor Fragestellungen, die späteren beruflichen Aufgaben ähnlich sind. Der Prototyp sind Arbeitsproben. Auch viele Aufgaben im Assessment-Center fallen in diese Kategorie.
- Biografischer Ansatz. Hier wird aus der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen, d. h. aus früheren Erfahrungen, Leistungsergebnissen, Verhaltensgewohnheiten einer Person auf ihr künftiges Verhalten.
(…)
Zukunft
Die Welt der Arbeit hat sich durch Automatisierung und Globalisierung für viele Menschen schon gründlich geändert. Sie wird sich für noch mehr Menschen noch gründlicher ändern, vor allem durch die Verbreitung komplexer Algorithmen, vulgo »künstliche Intelligenz« (KI).
Schon heute schicken sich Algorithmen an, aus unserem Wortschatz und der Länge der verwendeten Wörter unsere Intelligenz abzuschätzen, am Gesicht die sexuelle Orientierung zu erkennen, aus den auf Instagram verschickten Fotos die Depression des Absenders zu diagnostizieren und aus der Frequenz unserer Stimme ein ganzes Persönlichkeitsgutachten zu fertigen. Als Wissenschaftler*innen beschleicht uns doch das unangenehme Gefühl, dass darüber die Bedeutung kluger Theoriebildung zurückgedrängt wird – gegenüber dem geistlosen Prinzip der Mustererkennung.
Als Betroffene, also Diagnostizierte, kann uns dabei noch mulmiger zumute werden, denn was wir uns von anderen wünschen, ist doch, dass sie uns verstehen, aber nicht durchschauen. Bei der Algorithmen-Diagnostik kommt es aber immer umgekehrt. Wie man der KI verlässlich und dauerhaft beibringt, nicht nur die menschliche Diagnostik zu überbieten, sondern dabei auch menschliche Tugenden wie Vertrauen, Güte und Rücksichtnahme walten zu lassen, ist noch offen.
Wir müssen es schaffen, dass die Ziele der KI unsere, die von Menschen gesetzten Ziele sind. Das wird schwierig, vor allem dann, wenn die Algorithmen anfangen, nicht nur im künstlichen Sinne intelligent zu sein, sondern auch kreativ und neugierig, und noch schwieriger, wenn sie eines Tages sogar einen Trieb zur Selbsterhaltung entwickeln. Schwierig, doch – wie spricht der Dichter: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Lassen Sie uns nicht nur hoffen, sondern nach Kräften daran arbeiten!"