Mindful Leadership: „1 Gramm Praxis ist mehr wert als 1 Kilogramm Theorie“

Was steckt hinter Mindful Leadership? Müssen Führungskräfte dafür meditieren? Und eignet sich ein Führungsstil, der auf Achtsamkeit basiert, auch für Arbeitsumgebungen, in denen es oft schnell gehen muss (Stichwort Notaufnahme)? Antworten darauf gibt Dr. Shamsey Oloko.

1. Herr Dr. Oloko, die TK-Studie #whatsnext2022 hat ergeben, dass die Bedeutung von Mindful Leadership in den nächsten drei Jahren steigen wird. Was bedeutet Mindful Leadership überhaupt? Und wie erklären Sie sich die zunehmende Bedeutung?

Zunächst einmal freut es mich sehr, dass sich die wachsende Bedeutung von Mindful Leadership mittlerweile auch in repräsentativen Umfragen widerspiegelt. Das zeugt davon, dass Achtsamkeit nicht mehr nur als Angebot zur Stressbewältigung von Mitarbeitenden betrachtet wird, sondern mit einem anderen Fokus auch auf der Führungsebene Einzug hält und wirksam wird.

In meinem Verständnis ist Mindful Leadership im Kern ein Führungsstil, der auf Achtsamkeit basiert und Führungskräfte dabei unterstützt, sich selbst und andere mit mehr Klarheit, Verbundenheit und Gelassenheit zu führen. All das sind Qualitäten, die sich zum Teil auch in anderen Führungsstilen implizit oder explizit wiederfinden lassen. Das Besondere an Mindful Leadership ist jedoch, dass es aufbauend auf der Achtsamkeit konkrete Formen der Praxis mitbringt, um genau diese Qualitäten zu kultivieren. Die Achtsamkeitspraktiken sind zudem seit Jahrtausenden erprobt und seit einigen Jahren auch wissenschaftlich belegt. Sie helfen einer Führungskraft dabei, im gegenwärtigen Moment bewusster zu werden und diese neue Haltung mittels eines erprobten Werkzeugkoffers überall, jederzeit und im eigenen Tempo selbstständig einzuüben.

Ausgehend von dieser Definition von Mindful Leadership würde ich die zunehmende Bedeutung anhand von drei Punkten begründen: Zum einen ist Mindful Leadership modern bzw. zeitgemäß, da es ein Führungsstil ist, der situativ insbesondere mit unvorhergesehenen Situationen und Veränderungen umgehen kann, die gerade in der heutigen Zeit zunehmen. Gesellschaftliche Entwicklungen wie zum Beispiel New Work verändern die Rolle einer Führungskraft und betonen genau die Aspekte, für die auch Mindful Leadership steht. Zum anderen ist Mindful Leadership grundsätzlich anschlussfähig, da Achtsamkeit immer auch Selbstführung bedeutet und Selbstführung eine vom Führungsstil unabhängige Grundlage dafür ist, andere Menschen erfolgreich führen zu können. Zu guter Letzt ist Mindful Leadership überzeugend, da mehr und mehr Organisationen diese Form der Führung nutzen und positive Effekte auf beispielsweise Mitarbeiterbindung und Innovationskraft vorweisen können.

2. Wirkt sich Mindful Leadership auf Führungskräfte und Mitarbeitende aus und falls ja, wie?

Die Forschungslage zu Mindful Leadership steckt gegenwärtig noch in den Kinderschuhen, weshalb es hilfreich und sinnvoll ist, an dieser Stelle die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Achtsamkeit heranzuziehen.

Weitestgehend unumstritten ist der Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Stressempfinden. Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis hat einen signifikant positiven Effekt auf die Reduktion des eigenen Stresserlebens. Darüber hinaus lassen sich in der Literatur weitere signifikant positive Zusammenhänge zwischen Achtsamkeit und beispielsweise Konzentration und Problemlösungskompetenz beobachten. Mit Blick auf Mindful Leadership und dem Aspekt der Selbstführung können wir davon ausgehen, dass eine mit diesem Führungsstil verbundene Achtsamkeitspraxis zu ähnlichen Effekten für die Führungskraft führt. Eine Reihe aktueller Studien zeigt darüber hinaus einen deutlichen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und der Kompetenz, auf veränderte Rahmenbedingungen flexibel zu reagieren – was gerade in Zeiten von permanenter Veränderung und agiler Arbeitsweisen hilfreich ist.

Porträtaufnahme von Dr. Shamsey Oloko.

Im Gespräch mit Dr. Shamsey Oloko (Foto: RETURN ON MEANING GmbH)

In Bezug auf die Führung von anderen lassen sich in der Literatur zu Mindful Leadership ebenfalls hauptsächlich indirekte Hinweise finden. Zum Beispiel konnten Forscher:innen einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Zunahme unangemessener Verhaltensweisen der Führungskraft als Vorbild und den unangemessenen Verhaltensweisen ihrer Mitarbeitenden feststellen (Mackey et al., 2021). Ausgehend von der Annahme, dass Mindful Leadership eher angemessene Verhaltensweisen einer Führungskraft begünstigt, lässt sich im Umkehrschluss ableiten, dass das Vorleben von Klarheit, Verbundenheit und Gelassenheit auf Mitarbeitende abfärbt und entsprechende Verhaltensweisen im Team begünstigt.

In einer anderen Metaanalyse haben Forscher:innen die Bedeutung einer positiven Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden auf die psychologische Sicherheit im Team untersucht und konnten ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang feststellen (Frazier et al., 2017). Ein Beziehungsverhältnis, das durch Mindful Leadership geprägt ist, hat eine positive Qualität und trägt daher zur psychologischen Sicherheit im Team bei.

3. Mal angenommen, eine Führungskraft liest unser Interview und möchte diesen Führungsstil übernehmen. Wo fängt sie am besten an? Und wie ist der zeitliche Umfang, muss sie dann z. B. jeden Tag 30 Minuten meditieren?

Ein Gramm Praxis ist mehr wert als 1 Kilogramm Theorie! Daher würde ich der Führungskraft empfehlen, direkt mit der konkreten Achtsamkeitspraxis zu beginnen. Die Achtsamkeitspraxis unterscheidet sich zwischen formaler und informeller Praxis. Unter formaler Praxis versteht man all die verschiedenen Formen der Meditation, bei denen ich sitzend, liegend, stehend oder laufend meinen Geist bewusst trainiere. Idealerweise wird diese Praxis zu einer neuen täglichen Gewohnheit. Für einen ungeübten Praktizierenden empfiehlt es sich, mit einer moderaten Meditationsdauer anzufangen, da ansonsten die Gefahr besteht, dass die formale Achtsamkeitspraxis vorzeitig abgebrochen wird, bevor sie sich als neue Gewohnheit etablieren kann. Man könnte beispielsweise mit täglich drei, fünf oder zehn Minuten beginnen und die Dauer der Meditation bei Interesse langsam steigern.

Die informelle Praxis umfasst alle Momente der Achtsamkeit im Alltag. Hier geht es nicht darum, was ich mache, sondern wie ich es mache. Es bedarf keines weiteren Punktes auf meiner To-Do-Liste, sondern einer achtsamen Ausübung bereits bestehender Aktivitäten. Zum Beispiel kann ich mir vornehmen, das erste Gespräch mit Kolleg:innen achtsam zu führen, also zu versuchen, genau hinzuhören, anstatt mit meinen Gedanken bereits bei der nächsten Frage zu sein oder zwischendurch auf mein Smartphone zu schauen. Ich kann mir auch vornehmen, morgens meine Zähne achtsam zu putzen und nachmittags meinen Kaffee achtsam zu trinken. Wichtig ist dabei, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei der Tätigkeit bin und sie bewusst erlebe. Auch auf diese Weise wird mein Geist trainiert.

Prinzipiell gilt: Je häufiger und intensiver ich meinen Geist trainiere, desto schneller und wirkungsvoller kultiviere ich eine achtsame Haltung. Hilfreich für den Einstieg sind dabei auch Apps oder Kurse wie zum Beispiel der Kurs MOMENTUM von RETURN ON MEANING.

4. Funktioniert das eigentlich auch in einem Umfeld, in dem alles meist schnell gehen muss? Zum Beispiel in der Leitung einer Notaufnahme. Wie ließe sich Mindful Leadership dort umsetzen?

Mindful Leadership bedeutet nicht, dass mein Denken sich verlangsamt und meine Handlungen und Entscheidungen nur noch in Zeitlupe ausgeführt werden. Nicht die Geschwindigkeit verändert sich, sondern die Bewusstheit im gegenwärtigen Moment. Diese Bewusstheit hat einen Wert an sich und das völlig unabhängig davon, ob ich nun schnelle oder langsame Entscheidungen treffe.

Krankenhauspersonal schiebt eilig einen Patienten oder eine Patientin auf der Liege über den Flur.

„Mindful Leadership bedeutet nicht, dass mein Denken sich verlangsamt“ – und eignet sich daher auch für Situationen, in denen schnell gehandelt werden muss (Foto: gpointstudio – stock.adobe.com)

Anders ausgedrückt: Zu wissen, dass eine schnelle Entscheidung notwendig ist und zu wissen, warum ich mich für eine bestimmte Option entscheide, das ist Klarheit. Die Ruhe zu bewahren und nicht den Kopf zu verlieren, obwohl um mich herum Stress und Hektik toben, das ist Gelassenheit. Und den wertschätzenden Umgang mit anderen Menschen trotz hektischem Umfeld und schneller Entscheidungen beizubehalten, das ist Verbundenheit.

5. Abschließend noch eine etwas persönlichere Frage: Wie sind Sie selbst zum Thema gekommen und was fasziniert Sie an Achtsamkeit und Mindful Leadership?

Ich praktiziere seit über zehn Jahren eine säkulare, philosophische Form des Buddhismus, aus der sich die moderne Achtsamkeitspraxis entwickelt hat. Da ich am eigenen Leib erfahren durfte, wie sich durch den Buddhismus meine Lebensqualität sowohl beruflich als auch privat erhöht hat, erfüllt es mich mit großer Freude und Dankbarkeit, dieses Wissen weitergeben und auch weiterentwickeln zu dürfen.

Im Mindful Leadership sehe ich über die allgemeine Achtsamkeitspraxis hinaus das Potenzial, dass sich neben der Führungskraft auch das dazugehörige Team und die gesamte Organisation positiv verändern. Dieses Veränderungspotenzial ist ein weiterer Hebel zur Transformation unserer Gesellschaft hin zur mehr Mitmenschlichkeit und gegenseitiger Wertschätzung. Und gleichzeitig setzt dieser Hebel ganz konkret an der persönlichen Eigenverantwortung der Führungskraft an und erfordert eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst. Diese Arbeit an sich selbst ist Kern verschiedener Weisheitstraditionen und findet sich beispielsweise auch in der Philosophie der Antike, im Yoga und im Buddhismus wieder. Es ist genau diese Kunst der Selbstführung in ihren verschiedenen Facetten, die mich seit jeher interessiert und für die ich leidenschaftlich brenne.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wir sprachen mit:

Dr. Shamsey Oloko ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet seit 2020 bei der Unternehmensberatung RETURN ON MEANING, die sich auf Kulturwandel, Talent Management, Leadership und Achtsamkeit spezialisiert hat.

Im Anschluss an seine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung folgten Weiterbildungen als Personal & Business Coach, Trainer für Achtsamkeit in Organisationen sowie als MBSR-Lehrer (Mindfulness-based Stress Reduction). Zudem absolvierte er den postgradualen Studiengang zum Akademischen Philosophischen Praktiker an der Universität Wien.

 

Literatur

Mackey, J., Parker, E., McAllister, C., & Alexander, K. (2021). The dark side of leadership: A systematic literature review and meta-analysis of destructive leadership research. Journal of Business Research, (132) 705-718.

Frazier, L., Fainshmidt, S., Klinger, R., Pezeshkan, A., & Vracheva, V. (2017). Psychological Safety: A Meta‐Analytic Review and Extension. Personnel Psychology, (70) 1, 113-165.

(Interview: Anja Wermann, Redaktion WIRTSCHAFTSPSYCHOLOGIE aktuell)

Banner mit Hinweis zur Printausgabe 2/2023, in der ein weiterer Artikel von Dr. Shamsey Oloko mit dem Titel "Mit Mindful Leadership den eigenen Geist trainieren" zu finden ist. Zum Bestellen auf den Banner klicken, er führt zum Onlineshop.