Informelles Lernen – der Hidden Champion
Arbeitsbezogenes Lernen findet nicht nur in Seminarräumen oder bei der Bearbeitung von E-Learning-Einheiten statt. Oft geschieht das Lernen nebenbei, um aufkommende Probleme zu lösen. Das informelle Lernen ist der Hidden Champion des arbeitsbezogenen Lernens: Viele Vorteile überwiegen wenige Nachteile.
Ob Krisen oder KI – Veränderungen durchdringen alle Bereiche des Lebens. Diese erfordern in Organisationen fortlaufend neues Wissen, neue Fähigkeiten sowie die Einstellung von neuen Mitarbeitenden.
Lernen ist fester Bestandteil von Arbeit. Oft denkt man beim arbeitsbezogenen Lernen ausschließlich an Fortbildungen oder Seminare, im Zuge der Digitalisierung auch an E-Learning-Angebote. Unterschätzt wird allerdings, dass Lernen zu einem Großteil informell geschieht (Kortsch et al., 2024; Tannenbaum & Wolfson, 2022). Informelles Lernen hat verschiedene Vorteile:
- Das Lernen erfolgt im Moment des Bedarfs
- Es besteht kein grundlegendes Transferproblem, da Lernen und Problemlösung zeitlich zusammenfallen
- Es verursacht kaum Kosten
So wird das informelle Lernen zum Hidden Champion des arbeitsbezogenen Lernens.
Informelles Lernen – Teil des Dreiklangs des arbeitsbezogenen Lernens
Arbeitsbezogenes Lernen umfasst einen Dreiklang unterschiedlicher Lernformen (Decius, 2024; Kortsch et al., 2024): formales, selbstreguliertes und informelles Lernen.
Das formale Lernen ist der Klassiker. Es ist weitgehend strukturiert. Lerninhalte, Lernziele, Lernzeit sind – oft vom Arbeitgeber – vorgegeben. In Trainings, Seminaren und Unterweisungen wird der Lernprozess stark von Außenstehenden (z. B. der Seminarleitung) gesteuert.
Sucht sich eine Person ein eigenes Lernprojekt (z. B. den Erwerb von KI-Kompetenz), handelt es sich um selbstreguliertes Lernen. Hierbei setzen sich die lernenden Personen selbst Ziele, verfolgen und überwachen die eigene Zielerreichung.
Das informelle Lernen grenzt sich vom formalen und selbstregulierten Lernen wie folgt ab: Anders als beim formalen Lernen ist das Lernen wenig strukturiert und der Prozess wird von der lernenden Person gesteuert. Im Gegensatz zum selbstregulierten Lernen steht das Lösen von Problemen – und nicht das Erreichen eines Lernziels – im Vordergrund.
In einer Auswertung von Definitionen für informelles Lernen fand Julian Decius (2020) neun wesentliche Merkmale: Informelles Lernen am Arbeitsplatz
- ist nicht formal bzw. institutionell organisiert,
- ist wenig strukturiert,
- kommt in alltäglichen Arbeitsprozessen und -situationen vor,
- wird von der lernenden Person selbst gesteuert und kontrolliert,
- wird nicht pädagogisch unterstützt oder begleitet,
- beinhaltet das Lernen aus Erfahrungen und Handlungen sowie Reflexion,
- ist ein bewusster bzw. intentionaler Prozess,
- hat eine Handlung bzw. Problemlösung zum Ziel, nicht das Lernen selbst,
- ist oftmals in einen sozialen Kontext eingebunden.
Durch diese Merkmale lässt sich informelles Lernen von den anderen Lernformen abgrenzen. Welche Aktivitäten beim informellen Lernen eine Rolle spielen, wird im Oktagon-Modell des informellen Lernens beschrieben.
Das Oktagon-Modell – acht Komponenten
Das Oktagon-Modell umfasst acht Dimensionen des informellen Lernens (Decius et al., 2019). Es ist eine Erweiterung des dynamischen Modells von Tannenbaum et al. (2010), das bereits zwischen den vier Komponenten Lernen aus Erfahrungen, Lernen durch Feedback, Lernen durch Reflexion und Lernintentionen unterscheidet. Das Oktagon-Modell spezifiziert diese vier Komponenten durch jeweils zwei Subdimensionen (Decius, 2024):
- Eigene Erfahrungen: Ausprobieren eigener Lösungen und Ideen
- Stellvertretende Erfahrungen: Abschauen von erfolgreichen Strategien bei Kolleg:innen durch Modelllernen
- Direktes Feedback: Aktives Einholen von Rückmeldungen zur eigenen Arbeitsleistung
- Stellvertretendes Feedback: Erfahrungsaustausch mit Kolleg:innen (ohne direkten Bezug zur Arbeitsleistung der lernenden Person)
- Vorausschauende Reflexion: Nachdenken über die Vorbereitung und Planung einer Aufgabe
- Reflexion im Nachhinein: Nachdenken über die Qualität von Arbeitsergebnissen und -prozessen
- Extrinsische Lernintention: Lernen aufgrund externer Anreize wie Lob, Vergütung oder Aufstiegschancen
- Intrinsische Lernintention: Lernen aus Interesse und Freude am Lerninhalt
Förderung des informellen Lernens
Das informelle Lernen lässt sich nur schwerlich direkt fördern. Dies würde das Lernen formalisieren und könnte unerwünschte und paradoxe Effekte auf Motivation und Verhalten haben, z. B. wenn Kaffeerunden zur Vernetzung angeordnet werden (Boud et al., 2009; Paulsen et al., 2024). Im schlimmsten Fall wird die intrinsische Lernintention für das informelle Lernen durch formale Vorgaben untergraben.
Gefördert werden kann informelles Lernen am besten indirekt. Eine Grundlage ist eine positive Lernkultur, die das Erkennen und Nutzen von Lerngelegenheiten wahrscheinlicher macht (Decius et al., 2022; Kortsch et al., 2023) und Mitarbeitenden signalisiert, dass Probleme und aufkommende Fehler von Nutzen für Lernen und Verbesserung sind. Zudem können Metakompetenzen wie „Lernen lernen“ von Mitarbeitenden gefördert werden, beispielsweise durch Ansätze des Fehlermanagements. Statt Fehler verhindern zu wollen, können Fehler als etwas Unausweichliches betrachtet und als Chance zum Lernen begriffen werden (Frese & Keith, 2016). Auch lernförderliche Selbstgespräche (Hacker & Pohlandt, 2024) können geübt werden, sodass Gedanken den Lernprozess bei aufkommenden Problemen unterstützen (z. B. durch die Fragen: Was könnte ich bei der Aufgabe lernen? Von wem könnte ich mir etwas abschauen, um die Aufgabe besser zu erledigen?). Auf den ersten Blick mag dies zwar widersprüchlich erscheinen, doch formales Training von Metakompetenzen könnte so das informelle Lernen fördern.
Nachteile des informellen Lernens
Dem Nutzen des informellen Lernens stehen auch Nachteile gegenüber. So kann es sein, dass sich Mitarbeitende mit kurzfristigen Lösungen in Form von Workarounds zufriedengeben, welche die Probleme aber nicht nachhaltig lösen. Ein Beispiel wäre, dass ein Mitarbeiter durch Modelllernen oder Feedback lernt, Daten immer wieder händisch zu übertragen, weil die Import-Funktion in der Software nicht vollständig verstanden wird. Kurzfristige Leistungssteigerungen, indem z. B. gelernt wird, Sicherheitsvorkehrungen bei Maschinen zu umgehen, können zudem zu Lasten von langfristigen Zielen wie der Arbeitssicherheit gehen (vgl. Decius, 2024).
Kombination von Lernformen
Zu beachten ist, dass es auch auf das Verhältnis von Lernformen in einem Anwendungskontext ankommt. In Onboardingprozessen ist das informelle Lernen einerseits unerlässlich dafür, dass Mitarbeitende Kompetenzen erwerben. Anderseits ist das eigene Ausprobieren auch mit Anstrengung verbunden. Wenn z. B. zu viel dem eigenen Ausprobieren überlassen wird, kann dies zur Überforderung der neu eingestellten Person führen. Hier empfiehlt es sich, den Dreiklang des arbeitsbezogenen Lernens zu fördern und gezielt zu schauen, welches Wissen und welche Fähigkeiten formal, selbstreguliert oder informell erworben werden sollten.
Fazit
Das informelle Lernen ist eine bedeutsame und teilweise unterschätzte Form des arbeitsbezogenen Lernens. Diese in der Personalentwicklung im Blick zu behalten und nicht dem Zufall zu überlassen, hilft, Potenziale des arbeitsbezogenen Lernens insgesamt noch gezielter zum Aufbau und Erhalt von Kompetenzen zu nutzen. Das informelle Lernen wird durch das Oktagonmodell greifbar. Dabei ist das informelle Lernen nicht als Gegenspieler zu anderen Lernformen zu verstehen, sondern entfaltet die Wirkung vor allem dann, wenn es systematisch mit formalem und selbstreguliertem Lernen verflochten wird.