Von Ignoranz zu Transparenz: Depressionen am Arbeitsplatz

Wussten Sie, dass (unipolare) Depressionen in Deutschland zu den am zweithäufigst diagnostizierten psychischen Störungen zählen? Wie können Unternehmen, Führungskräfte und Teams Betroffene besser unterstützen? Anlässlich des Europäischen Depressionstags am 1. Oktober gehen wir diesen und weiteren Fragen nach.

Mit 8,2 Prozent liegen unipolare Depressionen in Deutschland auf Platz 2 der am häufigsten diagnostizierten psychischen Störungen innerhalb eines Jahres. Auf Platz 1 befinden sich Angststörungen mit 15,4 Prozent (Jacobi et al., 2015). Je nach Krankenkassenbericht und Auswertungsjahr stellen wir fest, dass psychische Erkrankungen als Haupt-Krankschreibungsursache die Muskel-Skelett-Erkrankungen überholen. 

Über die eigene Depression zu sprechen, löst bei vielen Betroffenen jedoch Schaudern aus. Gerade am Arbeitsplatz. Scham, Berührungsängste, fehlender Umgang und die Angst, verurteilt oder mit Samthandschuhen angefasst zu werden, prägen die Arbeitswelt noch immer stark. Ein offener Umgang bei/mit Führungskräften, Kolleg:innen und in der HR-Abteilung ist immer noch eher die Ausnahme. 

„Betroffene finden aktuell deutlich schwerer wieder in ihren Berufsalltag zurück. […] Die Menschen sprechen in der Familie und der Arztpraxis mittlerweile zwar offener über Depressionen oder Ängste. Aber in der Arbeitswelt müssen wir noch mehr tun, damit psychische Probleme nicht tabuisiert werden“, sagte Sophie Schwab, Landeschefin der DAK-Gesundheit in Bayern, im März 2023. 

Bitte keine Samthandschuhe 

Arbeit kann für die Gesundung einiger Erkrankungen essenziell sein. Sie bietet eine stabile Säule, schafft Routine und Struktur. Die meisten Betroffenen wollen keinen Sonderstatus oder mit Samthandschuhen behandelt werden. Wie bei körperlichen Erkrankungen finden auch Menschen mit psychischen Erkrankungen einen Umgang, um ihren Alltag zu bewältigen. 

Dennoch ist eine depressive Episode für Betroffene kein leichter Weg. Sie verurteilen sich, weil sie aktuell nicht mehr so leistungsfähig sind, wie es von ihnen verlangt wird. Sie schämen sich, weil sie Verhaltensweisen an den Tag legen, die ihr Umfeld nicht nachvollziehen kann und die sie zugleich selbst einschränken. Sie sind hoffnungslos, weil sie keine Perspektive sehen. Sie kämpfen sich zurück in den Alltag, weil sie Teil der Gemeinschaft sein wollen, und werden für diese Mammutleistung kaum honoriert. 

Wie also können Unternehmen, HR und Führungskräfte unterstützend am Arbeitsplatz agieren und was können die Betroffenen selbst tun? 

Unterstützung auf Unternehmens- und HR-Ebene 

Die Krankheitstagedauer aufgrund psychischer Leiden betrug laut des BARMER Gesundheitsreports 2023 im Jahr 2022 im Schnitt 44,6 Tage (Grobe et al., 2023). Das sind mehr als sechs Wochen. Neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) und der Psychischen Gefährdungsbeurteilung können Unternehmen bzw. HR-Abteilungen allerdings noch weitaus mehr tun als das Gesetz zu erfüllen. Weil sich die Integration psychischer Gesundheit nicht nach Gießkannenprinzip anwenden lässt, finden Sie nachfolgend einige Reflexionsfragen: 

  1. Offener Umgang: Wie gehen Sie grundsätzlich mit physisch und psychisch erkrankten Mitarbeitenden um? Gibt es Unterschiede? Gibt es Kolleg:innen, die bereits offen darüber sprechen und trotz dessen sogar befördert wurden? 
  2. Inklusive Sprache: Welche Sprache nutzen Sie in der Unternehmenskommunikation, um das Stigma psychischer Erkrankungen zu verringern? Wie sprechen Sie darüber?  
  3. Onboarding: Integrieren Sie das Thema „Psychische Gesundheit“ bereits im Onboarding? Erhalten Betroffene bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz eine kleine Aufmerksamkeit als Zeichen der Wertschätzung?  
  4. Anlaufstellen: Welche Anlaufstellen bieten Sie Mitarbeitenden an? Können sich Betroffene an jemanden wenden? 
  5. Verpflichtende Trainings: Bieten Sie neben gängigen, oftmals verpflichtenden, Datenschutztrainings auch Schulungen für den Umgang mit psychisch überlastenden oder erkrankten Mitarbeitenden an? Und sind diese verpflichtend? 

Unterstützung auf Führungsebene 

Laut der Befragung Mental Health at Work: Managers and Money des Workforce Institute der UKG (2022) haben Führungskräfte einen größeren Einfluss auf die mentale Gesundheit als Ärzt:innen und Therapeut:innen. 

Was Führungskräfte im Umgang mit erkrankten Menschen tun können: 

  1. Respekt und Akzeptanz: Wissen Sie als Führungskraft, weswegen der/die Mitarbeitende ausgefallen ist? Im Zweifel nicht. Respektieren Sie jegliche Entscheidung und akzeptieren Sie, wenn jemand nicht darüber sprechen möchte.  
  2. Vorbildfunktion: Wie offen gehen Sie mit Ihrer eigenen Gesundheit, mit Verlusten, Fehlschlägen, Erfolgen um? Inwieweit sprechen Sie über Ihr Stresslevel
  3. Wissensaufbau: Überdenken Sie Ihr eigenes Wissen über psychische Erkrankungen. Ist das Wissen solide – oder eher ein Halbwissen?  
  4. Notfallpläne: Gibt es Vertretungen bei Urlaub? Wie sieht es mit konkreten Plänen aus, wenn jemand plötzlich ausfällt? 
  5. Austausch und Ziele: Haben Sie mit der betroffenen Person kleine Etappenziele vereinbart? Es wichtig, Rahmenbedingungen und eine Perspektive zu schaffen. Gehen Sie offen in den Austausch und scheuen Sie sich nicht nachzufragen. 

Ähnlich können sich auch direkte Kolleg:innen verhalten. Fragen Sie nach, akzeptieren und respektieren Sie die Entscheidung Ihres Teammitglieds. 

Die Rolle der Betroffenen 

Eine Depression kennt kein Alter, keinen Status und kein Geschlecht. Betroffene sind Erfahrungsexpert:innen. So traurig das einerseits sein mag, so wertvoll sind diese Erfahrungen andererseits für andere, wenn es um den Umgang geht. Dennoch ist es wichtig, dass sich Erfahrungsexpert:innen ebenfalls Gedanken machen: 

  1. Sicherheit: Fühlen Sie sich wohl und sicher, offen darüber zu sprechen? Vielleicht ist es anfänglich eine Hürde. Aber nein, Sie müssen nicht offen darüber sprechen. 
  2. Unterstützung: Welche Unterstützung bräuchten Sie, wenn Sie sich dafür entscheiden? Gehen Sie in einen offenen Austausch. 
  3. Role Model: Möchten Sie Aufklärungsarbeit innerhalb des Teams oder der Unternehmenskultur leisten und stehen als Role Model zur Verfügung? 
  4. Identifikation: Bis zu welchem Grad möchten Sie sich mit Ihrer Erkrankung identifizieren und wo sind Sie auch einfach in einer ganz normalen Rolle des/der Angestellten? Wie jede andere Erkrankung ist auch eine Depression nur ein Teil von Ihnen. Sie sind jedoch nicht die Erkrankung. 
  5. Grenzen: Kennen Sie Ihre Frühwarnzeichen? Verurteilen Sie sich nicht selbst dafür, wenn Sie Ihre Grenzen mal wieder übergangen haben. Denken Sie daran: Es ist ein Prozess.  

Grundsätzlich dienen die aufgeführten Punkte zur Anregung. Wir möchten an der Stelle vermerken, dass die Grenze zum „well-washing“ gering ist und es eine ehrliche und aufrichtige Auseinandersetzung erfordert. Auf allen Ebenen gilt stets: Selbstfürsorge. Auf sich selbst gut zu achten. Sowohl als Führungskraft, als auch als Kollege und Kollegin oder betroffene:r Erfahrungsexpert:in. 

Zum Weiterlesen 

Die beiden Autorinnen haben Anfang des Jahres das Projekt „break the business silence“ gestartet. Weitere Informationen und die Möglichkeit, sich zu beteiligen, finden Sie hier: https://www.wearemental.de/neuigkeiten/categories/break-the-business-silence 

Literaturliste zum Download

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