Employee Experience: „Schreibtischlose“ Arbeitskräfte mitdenken

Die Mehrheit der Beschäftigten weltweit arbeitet nicht am Schreibtisch. Viele dieser Arbeitnehmenden sind nicht motiviert und verlassen derzeit ihre Unternehmen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, entstehende Lücken zu füllen. Für Unternehmen lohnt es sich deshalb, das tägliche Arbeitserlebnis (engl. „employee experience“) dieser Mitarbeitenden zu erfragen und kontinuierlich zu verbessern. Wie dies schon mit einfachen Mitteln gelingen kann, zeigt Ihnen Volker Nürnberg an konkreten Unternehmensbeispielen auf.

Mitarbeitende wollen als Menschen bei der Arbeit individuell wahrgenommen und täglich unterstützt werden. Das wurde in Zeiten der Pandemie verstärkt sichtbar und Unternehmen haben einen starken Fokus daraufgelegt, diese Erwartung auch in remote oder hybrider Arbeitsumgebung zu erfüllen. 

Es gibt mit den sogenannten „Blue- und Grey-collar“-Mitarbeitenden, also denjenigen, die nicht mit weißem Kragen (engl. „collar“) arbeiten, jedoch eine große Arbeitnehmergruppe, für die bisher noch deutlich zu wenig zur Verbesserung des alltäglichen Arbeitserlebnisses gemacht wird. 

Laut einer aktuellen Studie haben 75 Prozent der Beschäftigten in Deutschland keinen Büroarbeitsplatz (respondi, 2022). Das sind beispielsweise Mitarbeitende in Produktion und Lager, aber auch im Einzelhandel, Außendiensttechniker:innen, Lieferfahrer:innen und medizinisches Fachpersonal. 

Bei diesen Beschäftigten zeigt sich ein zunehmendes Selbstbewusstsein, welches aktuell bei 35 Prozent zu einem ausgeprägten Wechselwunsch geführt hat. In der Gruppe der 18 bis 29 Jahre alten Blue/Grey-collars kann sich sogar fast die Hälfte einen Wechsel vorstellen. Laut der respondi-Studie geht dies mit einer 63-prozentigen Zuversicht einher, schnell eine:n neue:n Arbeitgeber:in zu finden. Angst vor einem Jobverlust zeigt sich dagegen nur bei 16 Prozent. 

Den Arbeitgebern offenbart sich dies mittlerweile auch durch deutlich größere Probleme bei der Rekrutierung. 

4 Herausforderungen für Mitarbeitende ohne Büroarbeitsplatz 

In einer weiteren Studie wurde nach konkreten Problemen und Herausforderungen von Mitarbeitenden ohne Büroarbeitsplatz gefragt (skedulo, 2022). Dabei wurden die folgenden vier wichtigsten Herausforderungen identifiziert: 

  1. Die Arbeitslast ist kaum zu bewältigen, was durch langsame und ineffiziente Einsatzprozesse zusätzlich erschwert wird. 
  2. Die Unterstützung durch Technologie ist unzureichend. 75 Prozent verbringen zwar viel Zeit mit Technologie, die aber nicht zweckdienlich ist. Sie verstehen die Potenziale, die ihnen Technologie bieten könnte, z. B. in den Bereichen Produktivität und Kommunikation oder auch Onboarding und Weiterbildung, finden diese aber nicht vor. 
  3. Begrenzte Autonomie. Vermisst werden Freiheitsgrade bei der Arbeitserbringung, wie z. B. Schichtwechsel und Tausch. 
  4. Schwierige Kommunikation. Geräte sind ungeeignet für die Zusammenarbeit; interessanterweise nutzen 56 Prozent der Befragten aus Frust ihre eigenen Geräte. 

Das es auch anders gehen kann, habe ich bereits vor Jahren bei Flugbegleiter:innen der Lufthansa erlebt (Lufthansa, 2006), die sich über einen beliebigen Browser im LH-Dienstplansystem anmelden konnten und dort sowohl die Einsatzplanung als auch weitere Workflows mit dem Unternehmen und der Personalabteilung steuern konnten. 

Entscheidende Momente 

Für die Bewertung ihres alltäglichen Arbeitserlebnisses sind bestimmte Momente im Arbeitsalltag der schreibtischlosen (engl. „deskless“) Mitarbeitenden entscheidend, die ich Ihnen beispielhaft vorstellen möchte. Wichtig für deren Verständnis ist, dass Sie sich ernsthaft in diese Menschen hineinversetzen und berücksichtigen, dass die Mehrzahl von ihnen privat, z. B. beim (Online-)Shopping, Banking oder in sozialen Medien, bereits bestimmte Standards kennt und erlebt – und diese mit dem vergleicht, was ihnen bei der Arbeit zur Verfügung steht. 

Einbindung 

Mitarbeitende ohne Schreibtisch wünschen sich Kommunikation, Feedback und Anerkennung über den direkten Arbeitskontakt hinaus. Solche Angebote sollten einfach, flexibel und einladend (sozial) gestaltet sein. Wichtig ist hier, keine Einbahnstraße zu gestalten, sondern solche Instrumente zu nutzen, die zu Mitgestaltung und geteilter Verantwortung einladen. So könnten beispielsweise Ideen für eine verbesserte Schichtgestaltung erfragt werden und Anerkennung bei bestimmten „Schwellenwerten“ (5, 10 Vorschläge gemacht, etc.) oder nach erfolgter Umsetzung („Dein Vorschlag … wurde umgesetzt, danke!“) gegeben werden. 

Angebote zur Weiterentwicklung und Weiterqualifizierung 

Alle Mitarbeitenden wünschen sich Zugang zu Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Gerade vor dem Hintergrund der Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz und Robotik spüren viele Beschäftigte in „einfachen“ Berufen, dass sie sich weiterqualifizieren müssen und erwarten dafür deutlich mehr Angebote seitens des Arbeitgebers. In den USA hat sich im Gesundheitswesen gezeigt, dass solche Angebote gerne genutzt werden und die Fluktuation erheblich reduzieren (trainingindustry, 2022). 

Flexibilität und individuelle Angebote 

Schreibtischlose Mitarbeitende haben besondere Bedürfnisse und Vorlieben und erwarten dabei Unterstützung. Beispielsweise kann eine flexible Planung unterschiedliche Schichten und Arbeitsbelastungen berücksichtigen; Wahlmöglichkeiten und Optionen sollten zu unterschiedlichen Lebensstilen und Lebensphasen passen, hierzu gehören Angebote, die die Familiensituation und Präferenzen bzgl. der Arbeitserbringung berücksichtigen (vormittags-, nachmittags, am Wochenende, etc.). 

Wie kann die Verbesserung des Arbeitserlebnisses für deskless-Mitarbeitende konkret gelingen? 

Die Verbesserungen können in Testbereichen durch neue Angebote und Lösungen herbeigeführt werden, welche man idealerweise zusammen mit den Mitarbeitenden identifiziert. Solche Pilotprojekte fördern die Motivation und können die Stimmung verbessern. Bei Erfolg können die Maßnahmen schrittweise ausgeweitet werden. In diesen Pilotprojekten werden oft agile Design-Methoden und -Technologien genutzt und sie qualifizieren nebenbei alle am Projekt beteiligten Mitarbeitenden. 

Praxisbeispiele 

Neben dem bereits erwähnten Dienstplansystem der Lufthansa, das bereits seit über 15 Jahren existiert, möchte ich zwei aktuelle Praxisbeispiele zur verbesserten Employee Experience (EX) vorstellen, die Veränderungen im Umgang mit deskless-Mitarbeitenden zeigen. Diese Beispiele stammen von großen Unternehmen aus den USA, die damit vor allem auf Herausforderungen beim Halten und Gewinnen qualifizierter Beschäftigter reagiert haben. 

Providence Health ist ein Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen im Westen der USA mit über 100.000 Angestellten. Deren Personalleiter Greg Till machte aus der Not eine Tugend und hat zusammen mit seinen Führungskräften und Mitarbeitenden an der Front vier Prinzipien für ein zukünftiges „New Work Operating System“ definiert und umgesetzt (Providence, 2022): 

  1. Arbeit um tatsächliche Aufgaben herum neu denken, nicht mit aktuellen Stellen anfangen; diese müssen ggf. angepasst werden. 
  2. Menschen und Automatisierung sollten sich ergänzen, damit die Arbeitslast verringert wird. 
  3. Nicht nur Voll- und Teilzeitarbeit, sondern auch Freelancing und andere Formen der Arbeitserbringung können das Stammpersonal flexibel ergänzen. 
  4. Ermöglichen Sie den Mitarbeitenden, flexibel dort zu arbeiten, wo sie gebraucht werden, und entbinden Sie sie von festen Rollen. 

Dabei wurden umfangreich agile Design-Methoden zusammen mit Automatisierungen und Arbeitsveränderungen auf der Basis zuvor erfasster Daten und künstlicher Intelligenz genutzt. Dadurch wurde zum einen der Arbeitseinsatz flexibilisiert und zum anderen das Volumen notwendiger menschlicher Arbeit, das bereitgehalten werden muss, deutlich reduziert. 

Traditionell ist Walmart (Einzelhandelskette mit über 1,5 Millionen Beschäftigten allein in den USA) eher für Kostenminimierung bekannt. Auch dort hat man allerdings erkannt, dass man Mitarbeitende wesentlich stärker weiterqualifizieren muss, um diese im Unternehmen zu halten und in flexiblen Rollen einsetzen zu können. Das Angebot an internen Schulungen wurde stark ausgeweitet, wobei das Unternehmen für die Umsetzung auch auf die Nutzung von virtueller Realität (VR) setzt. 

2017 hat Walmart eine Schulungsakademie ins Leben gerufen (Walmart, 2017), um den Beschäftigten konkrete Entwicklungsperspektiven zu bieten und den zukünftigen Bedarf des Unternehmens an Fachkräften und Talenten sicherzustellen. Während der Pandemie wurden die Weiterbildungsangebote mithilfe virtueller Angebote auf alle Walmart-Angestellten weltweit ausgeweitet und erreichten 2021 bereits 400.000 Mitarbeitende. Diese können auf zwei Arten an virtuellen Programmen der Akademie teilnehmen (hrexecutive, 2022): 

  1. über VR-Headsets und iPads während der Arbeitszeit, die in jedem Geschäft für das Training vorgesehen sind, oder 
  2. durch Herunterladen der Walmart-Academy-App, die individuelles on-demand Training während der regulären bezahlten Arbeitszeit oder auch in der Freizeit, dann allerdings unbezahlt, ermöglicht. 

Der Erfolg dieser Initiative zeigt sich in höherer Mitarbeiterzufriedenheit, verringerter Fluktuation sowie verringerten Rekrutierungskosten durch interne Karrieren. 

Literaturliste zum Download

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Nürnberg, V. (2023). Employee Experience. Erfolgreich agile und integrierte Lösungen für Mitarbeitende gestalten. Freiburg: Haufe.

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