Zu viel des Guten: Die Grenzen von proaktivem Verhalten

In vielen Jobs wird Eigeninitiative gefordert. Proaktives Verhalten gilt als etwas Gutes. Im Arbeitsalltag können Menschen, die von sich aus aktiv werden, jedoch auch anecken. Wovon hängt es ab, ob Proaktivität hilfreich oder eher hinderlich ist? 

Nicht warten, sondern machen – proaktives Verhalten wie Eigeninitiative gilt als wünschenswert und ist tatsächlich auch mit vielen positiven Folgen verbunden – beispielsweise erleichtert es beim Start in einen neuen Job das Ankommen (Zhao et al., 2023). 

Doch hilft viel Proaktivität viel? Dem Wertequadrat von Schulz von Thun (2013) nach lassen sich positive Eigenschaften und Verhaltensweisen so stark übertreiben, dass sie nicht mehr wünschenswert erscheinen. Eine starke Eigeninitiative geht dann zu Lasten der Anpassungsfähigkeit. Menschen mit einer übertriebenen Ausprägung proaktiven Verhaltens werden dann schnell als eigensinnig, bisweilen auch egoistisch (zu Alleingängen neigend) wahrgenommen. Von Bedeutung sind dabei Bewertungsmaßstäbe des richtigen Ausmaßes, das wiederum vom Kontext abhängig ist. 

Empirische Befunde zu den Grenzen proaktiven Verhaltens 

Unter proaktivem Verhalten versteht man eine antizipatorische, d. h. auf die Zukunft ausgerichtete Handlung, die auf eine Veränderung abzielt (Grant & Ashford, 2008). Das Verhalten kann auf die Aufgabe, sich selbst oder die Umwelt ausgerichtet sein. Ob es zu gewünschten oder unerwünschten Konsequenzen führt, hängt von der handelnden Person und ihren Eigenschaften, Aspekten der Situation und dem Zusammenspiel von Person und Situation ab. Hier einige Beispiele (vgl. zusammenfassend Parker et al. 2019): 

  • Die soziale Kompetenz von proaktiven Menschen beeinflusst, ob gewünschte Effekte eintreten und von Führungskräften als positiv wahrgenommen werden. Fehlen soziale Kompetenzen besteht die Gefahr, dass die Proaktivität auf – für Führungskräfte und Kollegium – unpassende Ziele ausgerichtet wird oder auf ungeschickte Art und Weise erfolgt, so dass Führungskräfte sie wieder einfangen müssen. 

  • Je mehr Spielraum und Autonomie bestehen, desto förderlicher ist proaktives Verhalten. Bei starken Vorgaben und Standards kann proaktives Verhalten hingegen hinderlich sein. 

  • Wenn Mitarbeitende sich in Besprechungen einbringen und häufig fordernd auftreten, indem sie Probleme benennen und Verbesserungen vorschlagen, wird dieses proaktive Verhalten von Führungskräften schnell kritisch beurteilt. Von Vorteil für die Akzeptanz ist es, wenn Mitarbeitende das Wort ergreifen, um Entwicklungen zu bekräftigen und zu unterstützen und lösungsorientiert agieren. 

  • Das Aufsuchen und Einholen von Feedback, ebenfalls eine proaktive Verhaltensweise, ist vor allem dann leistungsförderlich, wenn zu eigenen Zielfortschritten auch negatives Feedback eingeholt wird. Wer sich auf positive Informationen beschränkt, bekräftigt hingegen schnell den Status quo. 

  • Proaktives Verhalten geht mit einer negativen Stimmung und Gefühlen wie Ängstlichkeit einher, wenn die soziale Unterstützung durch die Organisation oder Führungskräfte fehlt. 

Auch aus dem Anwendungsfeld Onboarding gibt es Einschränkungen und Grenzen des proaktiven Verhaltens: Während proaktives Verhalten (wie Informations- und Feedbacksuche) oder auch Beziehungsgestaltung (wie Networking und positives Framing) grundsätzlich förderlich ist, gilt dies nicht im selben Ausmaß für Verhandlungen über den Job und die übertragenen Aufgaben. Zwar fördert proaktives Verhalten die Rollenklarheit, doch in Bezug auf soziale Integration und Arbeitszufriedenheit weisen Studien hier eine große Streuung auf. Eine mögliche Erklärung: Seinen Job neu zu verhandeln, ist ein zweischneidiges Schwert. Im besten Fall stößt dies auf Akzeptanz, im schlimmsten Fall jedoch auf Widerstand (Zhao et al., 2023). 

Proaktiv handeln – aber weise 

Die Lösung, um den Nutzen von proaktivem Verhalten zu erhöhen, besteht für Parker et al. (2019) darin, proaktives Verhalten weise zu gestalten. Dies ist möglich, indem eigene und fremde Interessen und Bedürfnisse berücksichtigt und bei der Auswahl von Handlungszielen und deren Realisierung ausbalanciert werden. Ein Ansatz, der sich auch aus dem Wertequadrat ergibt (Schulz von Thun, 2013). Dort kann dem Alleingang der positive Gegenwert der Einbindung anderer entgegengesetzt werden. Dies kann anhand von vorausschauenden Reflexionsfragen geschehen (siehe Tabelle 1). 

Fazit 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass proaktives Verhalten in Kombination mit einem Gespür für den Kontext und die Mitmenschen am ehesten die gewünschte Wirkung entfaltet. Wer den sozialen Kontext vernachlässigt, handelt eher mit der Brechstange und wird auf Grenzen stoßen – im schlimmsten Fall sogar Schaden anrichten. 

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