"Leistung ist Psychologie, nicht Ökonomie"

Die Rufe nach der 4-Tage-Woche sind laut, Arbeitnehmende brauchen Erholung und weniger Arbeit. Doch ist dem wirklich so? Nein, meint Prof. Dr. Ingo Hamm. Er sieht das eigentliche  Problem in einem rein ökonomischen Leistungsverständnis, welches die psychologische Ebene nicht beachtet. Der Schlüssel zur Leistungslust liege im individuellen inneren Antrieb von Menschen.

Herr Hamm, was verstehen Sie unter Leistungslust? 

Interessanterweise ist Leistung im deutschen Sprachgebrauch meist negativ konnotiert und steht irgendwo zwischen Strebertum und Turbokapitalismus. Das ist im Englischen anders: Dort kann Leistung mit achievement, output oder accomplishment übersetzt werden; diese Begriffe suggerieren Stolz und betonen das Ergebnis einer Handlung. 

Wir in Deutschland müssen unseren ökonomischen, auf Anstrengung fokussierten Leistungsbegriff durch einen psychologischen ersetzen. Leistung ist nicht Ökonomie, sondern Psychologie. Es geht um intrinsische Motivation und inneren Antrieb.  

Sie führen Arbeitsunzufriedenheit darauf zurück, dass viele Menschen ihrem inneren Antrieb nicht mehr folgen. Woran liegt das? 

Seit Jahrzehnten werden positive Selbstwirksamkeitserfahrungen durch einige große Entwicklungen erschwert: Zum einen durch die Automatisierung von Arbeit. Schon vor der Digitalisierung wurden einfachere Arbeiten durch Maschinen ersetzt, und die Menschen wichen auf Schreibtischjobs aus. Doch auch dort hielt die Digitalisierung Einzug und nun wartet mit der KI die nächste Revolution auf uns. 

Durch ökonomisch bedingte Veränderungen in der Arbeitswelt sind Menschen immer weniger an der manuellen Tätigkeit selbst beteiligt. Auch wenn ich ein großer Befürworter der Digitalisierung bin, sehe ich als Psychologe die Nachteile für viele Individuen, die dadurch weniger Wirksamkeitserfahrungen im Beruf haben. Das, was sie tun, ist nicht mehr erfüllend, weil sie nicht mehr tätig sind und nicht mehr erleben, was mit ihren Erzeugnissen passiert. Sie haben nur noch kleine Teilaufgaben, direktes Feedback von Kund:innen oder vom Markt bleibt aus. 

Wie können Unternehmen auf dieses Problem reagieren? 

Natürlich können und sollen Unternehmen nicht das Rad zurückdrehen. Der Schlüssel liegt in der Kompetenzorientierung. Man erfährt Selbstwirksamkeit nur, wenn man im Beruf das tun kann, was man wirklich gerne macht und immer schon gut konnte. Indem man den eigenen Kompetenzen, Neigungen, Talenten oder Potenzialen folgt, ist eine Erfüllung durch Tätigkeit möglich. Viele merken leider erst nach zwanzig, dreißig Jahren, dass ihr Job sie nicht erfüllt, weil er ihren Kompetenzen nicht entspricht. Daher ist mein Credo: Wir müssen zur Kompetenzorientierung zurückfinden.  

Sich die eigenen Kompetenzen zu erarbeiten, ist eine individuelle Verantwortung. Das Spektrum an menschlichen Kompetenzen ist breit, in einer Analyse kam ich z. B. auf 17 Kernkompetenzen. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung für Führungskräfte, Arbeit entsprechend den Kompetenzen der Mitarbeitenden zu gestalten. Das setzt einen individuellen Blick auf die Angestellten und ein echtes Interesse am Menschen voraus. Das kostet Zeit, ist aber notwendig, wenn wir Leistung wieder als etwas Psychologisches, Qualitatives verstehen wollen. Erst, wenn die Mitarbeitenden ihre jeweiligen Kompetenzen zum Einsatz bringen können, wird aus dem Beruf eine Berufung. 

Welche Rolle spielen die Arbeitsbedingungen noch, wenn es so sehr auf die Kompetenzen ankommt? 

Tatsächlich drehen sich viele Diskussionen fast nur um die Arbeitsbedingungen, als wären Homeoffice und Co-Working der Schlüssel zum Glück. All das bringt jedoch wenig, wenn die Arbeit nicht der eigenen Kompetenz entgegenkommt. Somit lenken monetäre Benefits und grundsätzlich hilfreiche Errungenschaften von New Work zu sehr von dem eigentlich Wichtigen ab: Unserem inneren Antrieb.  

Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass Leute auch unter suboptimalen Rahmenbedingungen Höchstleistungen abrufen können. Nicht zuletzt Pflegende und Ärzt:innen rackern in einem gnadenlosen Schichtsystem und machen ihren Job trotzdem gerne. Ihre große intrinsische Motivation kompensiert die mangelhaften Arbeitsbedingungen. 

Natürlich gibt es Berufe, die körperlich und psychisch sehr anstrengend sind. Da diskutieren wir dann nicht mehr über Erfüllung und Kompetenz, sondern es besteht faktisch ein hohes Niveau an Belastung oder Überarbeitung. Generell dürfen wir schlechte Arbeitsbedingungen, z. B. in der Pflege, nicht schönreden oder bagatellisieren. Ich möchte nur den Fokus verlagern in einer Diskussion, die versucht, die raren Fachkräfte mit allen möglichen Ködern zu locken, während die Kompetenzorientierung vergessen wird. Denn die persönliche Eignung ist nicht egal: Wenn wir mit allen seltsamen Mitteln Menschen in Pflegeberufe bringen wollen, die inhaltlich überhaupt nichts davon halten, dann sind die natürlich weniger belastbar

Porträt von Prof. Dr. Ingo Hamm

Im Gespräch mit Prof. Dr. Ingo Hamm (Foto: Julian Beekmann)

Anstrengung gehört zur Arbeit dazu. Wie viel Erfüllung können wir von unserem Job überhaupt erwarten? 

Anstrengung ist für viele, die Erfüllung suchen, sogar essenziell. Sie wollen nicht faul auf dem Sofa rumhängen, sondern investieren ihre Zeit und Kraft in ambitionierte Ziele. Bergsteigen kann z. B. eine wahnsinnige Wirksamkeitserfahrung sein. Reinhold Messner spricht in dem Kontext von „Selbstmächtigkeit“, denn solche Extremerfahrungen lassen einen die eigenen Urkompetenzen spüren.  

Menschen sind nicht faul, sie wollen zeigen, dass sie etwas können und leisten, und sich dafür auch verausgaben. Leider geschieht dies zu selten bei der Arbeit. Das müssen wir transformieren, indem wir Wertschätzung und gute Arbeitsbedingungen schaffen und die Leute in jene Jobs holen, die sie gerne und gut machen. Dadurch steigern wir nicht nur individuell die Zufriedenheit, sondern bringen die gesamte Gesellschaft voran. 

Wie können Unternehmen auf das Bedürfnis vieler Arbeitnehmer:innen nach mehr Zeit für ihre Familie reagieren? 

Der Schlüssel ist die Flexibilisierung von Arbeit. In dieser Hinsicht passiert bereits viel, doch muss man auch die Sicht der Unternehmen verstehen, die eine Flexibilisierung nur begrenzt ermöglichen können, weil ein Mindestmaß an Zusammenarbeit und Kommunikation notwendig ist. Nicht zuletzt für den Teamgeist, denn Vertrauen entsteht nur durch echte Zusammenarbeit.  

Die meisten Führungskräfte wünschen sich außerdem, dass ihre Mitarbeitenden stets fröhlich mit 120% Energie zur Arbeit kommen. Die Realität sieht anders aus: Die meisten finden ihren Job okay und wirtschaftlich notwendig. Es ist kein Problem, wenn sie ihre wahre Erfüllung dafür zu Hause finden, in der Familie, im Hobby oder im Ehrenamt, solange sie ihren Job ordentlich erledigen. Für eine ideale Welt, in der alle ihre Kompetenzen zum Beruf machen, sind unsere Gesellschaft und Wirtschaft zu komplex. Somit sollte das Ziel ein gesundes Niveau an Leistungsbereitschaft sein.  

Was macht es so schwierig, Erfüllung im Job zu finden? 

Es macht die Selbstwirksamkeit kaputt, wenn man durch Bürokratie, Meetings und übergeordnete Prozesse nicht mehr zur eigentlichen Tätigkeit kommt. Da gibt es Hunderte von Beispielen; in unserer überkomplexen Gesellschaft haben wir manchmal zu viele Regeln und Grenzen, auch wenn sie einst gut gemeint waren. 

Ein anderer Punkt: Ich sehe viele junge Menschen, die unschlüssig ins Studium oder in einen Job starten und deren Unsicherheit als Unlust wahrgenommen wird. Dabei wissen sie „nur“ nicht, was sie wirklich antreibt und was ihre Kompetenzen sind. Um Antworten zu finden, können Ausbildungsinstitutionen, Betriebe, Arbeitsagenturen helfen. 

In der Berufsberatung lernt man die eigenen Kompetenzen, Interessen und Erfahrungen und dazu passende Jobs kennen. Auch im HR-Bereich kann man solche Beratungsangebote unterbringen. Wir verfügen mittlerweile über wunderbare Instrumente zum Thema Berufsorientierung und -eignung. Sogar im Internet gibt es brauchbare Tests zum Selbstausfüllen für kleines Geld. Das kann eine gute Basis bieten für die Berufswahl. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, so viele junge Menschen per Trial-and-Error ins Berufsleben stolpern zu lassen. 

Welche Bedeutung hat Achtsamkeit für inneren Antrieb und Leistungslust? 

Achtsamkeit ist eine Art zweischneidiges Schwert: In sich hineinzuhorchen und auch mal über den eigenen Schatten zu springen, sehe ich sehr positiv. Häufig wird Achtsamkeit jedoch reduziert auf einen Gegenwartsfokus, der die Zukunft ausschließt. Das ist für Leistung und Motivation kontraproduktiv. 

Es gibt den schönen Begriff der Disziplin. Auch damit assoziieren viele Drill und bedingungsloses Gehorchen. Disziplin hat aber psychologisch eine ganz andere Konnotation: Sie beschreibt den Verzicht auf Lustgewinn in der Gegenwart, um ein weiter entferntes Ziel zu erreichen. Dafür muss man mit Ressourcen haushalten und größere Pläne in kleinere Abschnitte unterteilen. Diesen zukunftsorientierten Charakter finde ich enorm wichtig, er sollte nicht verloren gehen. 

Vielen Dank für das Gespräch! 
 

Wir sprachen mit: 

Prof. Dr. Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt sowie Autor, Redner & Berater. Im Mai ist sein Buch zur Leistungslust (s.u.) erschienen.

Zum Weiterlesen:

[Werbung] Hamm, I. (2024). Lust auf Leistung - Wie wir Arbeit (wieder) lieben lernen. Vahlen.