Nachgefragt: Was machen eigentlich Gesundheitspsycholog:innen?

„Ein Betrieb ist nur so gesund wie seine Mitarbeiter“, schreibt Julia Scharnhorst, Gesundheitspsychologin und Unternehmensberaterin, auf ihrer Website. Warum das so ist und wie psychologische Fachkräfte betriebliche Gesundheit fördern können, erzählt sie uns im Interview. 

Frau Scharnhorst, Sie sind Diplompsychologin und approbierte Psychotherapeutin. Welche beruflichen Stationen haben Sie zur betrieblichen Gesundheitsförderung geführt? 

Zu Beginn meiner beruflichen Karriere habe ich einige Jahre in Rehakliniken gearbeitet. Dort habe ich zum ersten Mal den Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit miterlebt: Viele Patient:innen in der Rehaklinik suchten die psychologische Beratung, weil sie zu viel Stress im Job hatten. Nach meinem Master in „Public Health“ habe ich in einer privaten Krankenversicherung gearbeitet. Dort war ich für das Gesundheitsmanagement der Versicherten und die interne Gesundheitsförderung zuständig. Seit 2003 bin ich selbständig mit meiner Firma „Health Professional Plus“. Da bin ich sehr breit aufgestellt – von Beratungen zu psychischer Gesundheit, gesundheitsförderlichen Maßnahmen, Trainings und Coachings bis hin zu Gefährdungsbeurteilungen ist alles dabei. Außerdem bin ich Autorin mehrerer Bücher und Leiterin des Fachbereichs Gesundheitspsychologie im Bundesverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. 

Was meinen Sie: Warum geht betriebliche Gesundheit jedes Unternehmen etwas an? 

Die Menschen einer Organisation sind meistens deren wichtigste Ressource. Das haben viele Unternehmen noch nicht begriffen. Mitarbeitende, denen es psychisch nicht gut geht, sind entweder nicht motiviert oder nicht leistungsfähig. Sie sind fehleranfällig und können den Betrieb nach außen hin nicht gut verkaufen. Im Gegensatz dazu profitieren Firmen, die sich um das Wohlbefinden der Belegschaft kümmern, von motivierten, erfolgreichen Angestellten.  

Davon abgesehen, ist die Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastung für jeden Arbeitgeber Pflicht. Laut dem deutschen Arbeitsschutzgesetz müssen Unternehmen belastende Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz identifizieren und Gegenmaßnahmen ergreifen. Das machen allerdings noch längst nicht alle Unternehmen. Was den Unfallschutz angeht, haben wir in Deutschland eine deutlich längere Tradition. Das Thema der psychischen Belastungen ist relativ neu.  

Und muss vermutlich noch akzeptiert und im Bewusstsein der Arbeitgeber verankert werden.  

Genau. Viele Unternehmen behaupten immer noch, dass Stress bei der Arbeit das Problem der Mitarbeiter:innen ist. Weil sie nicht stressresistent genug sind. Aber das stimmt nicht. Stress bei der Arbeit zu reduzieren, ist die Pflicht des Arbeitgebers. Auch das steht im Gesetz: Psychische Gefährdungen müssen immer an der Quelle, also bei den Arbeitsbedingungen, bekämpft werden.  

Was sind denn typische Gefährdungen am Arbeitsplatz? 

Heutzutage sind es häufig der Zeitdruck und die Fülle von Aufgaben. Den Mitarbeitenden ist oft nicht klar, wo der eigene Arbeitsbereich beginnt und auch wieder endet. Diese Aufgabendiffusion hat zur Folge, dass sie nicht mehr differenzieren können, was dem eigenen Aufgabenfeld entspricht und was nicht. Auch mit der ständigen Erreichbarkeit, insbesondere im Homeoffice, können viele noch nicht umgehen. Außerdem können Konflikte – sei es im Team, mit den Vorgesetzten oder mit einem Kunden – sehr belastend werden.  

Und was sind typische Gegenmaßnahmen? 

Das hängt davon ab, wo das Problem liegt. Deswegen schaue ich mir zunächst die Arbeitsbedingungen ganz genau an. Hier arbeite ich viel mit psychologischen Fragebögen, die mir helfen, gesundheitsschädliche Faktoren zu identifizieren. Dabei prüfe ich zum Beispiel die Aufgabenverteilung, die Informationswege, die Kommunikation im Team, den Führungsstil und vieles mehr. Je nach Ergebnis entwickle ich mit den Beschäftigten Lösungsansätze, zum Beispiel Workshops. Manchmal werde ich auch darum gebeten, bei Konflikten zu moderieren oder einzelne Mitarbeitende zu coachen – zum Beispiel zum Zeit- und Selbstmanagement.

Porträtfoto von Gesundheitspsychologin Julia Scharnhorst

Im Gespräch mit Gesundheitspsychologin Julia Scharnhorst (Foto: privat)

Was ist in Ihrem Beruf herausfordernd für Sie? 

Ich brauche sehr viel Integrität. Denn ich komme ja als neutrale Person. Ich bin weder auf der Seite des Arbeitgebers noch auf der Seite der Mitarbeitenden. Das kann schwierig sein. Der Arbeitgeber möchte natürlich, dass ich so wenige Belastungen wie möglich finde. Davon darf ich mich nicht beeinflussen lassen. Die Mitarbeitenden hingegen möchten mir ihr Leid klagen. Teilweise berechtigt, teilweise nicht. Auch hier muss ich neutral bleiben und kommunizieren, welche psychischen Belastungen wissenschaftlich anerkannt sind – und welche nicht.  

Manchmal werden in diesen Workshops auch sehr schwerwiegende Probleme thematisiert, zum Beispiel Missbrauch durch eine Führungskraft. Um diese Belastung nicht mit ins eigene Privatleben zu nehmen, sollte man sich gut abgrenzen können. Aber das lernt man mit der Zeit.  

Wie fühlt es sich an, in so vertrauliche und sensible Themen eingeweiht zu werden? 

Mein Beruf ist auf jeden Fall eine Vertrauensposition. Unternehmen lassen mich herein in ihre Kultur, ihre Strukturen, an ihre Leute. Ich erfahre sehr viel – teilweise sind das Informationen, die nicht unbedingt nach draußen dringen sollten. Und da freue ich mich natürlich, wenn ich das Gefühl habe: Diese Menschen vertrauen mir.  

Welche Fähigkeiten braucht man – neben Integrität – noch in Ihrem Beruf? 

Sehr gute Moderationsfähigkeiten. Wenn man zum Beispiel einen Workshop leitet, sollte man den roten Faden behalten können, damit am Ende nicht nur Probleme thematisiert, sondern auch Lösungen diskutiert werden. Man sollte gut mit Menschen umgehen können, denn im Unternehmen arbeitet man mit den verschiedensten Interessensgruppen: der Unternehmensleitung, den Führungskräften, dem Betriebsrat, den Mitarbeitenden... Es ist wichtig, alle im Blick zu haben. 

Und natürlich sollte man Fachkenntnisse zum Thema psychische Belastungen am Arbeitsplatz mitbringen. Welche Belastungen gibt es? Welche sind schwerwiegend? Mit welchen Ressourcen und Maßnahmen kann man Belastungen wieder ausgleichen? Man sollte verschiedene Fragebögen kennen, denn diese unterscheiden sich je nach Branche. Für ein Krankenhaus verwendet man zum Beispiel einen anderen als für eine Versicherung.  

Was würden Sie Studierenden empfehlen, die später in Ihrem Beruf tätig sein wollen? 

Als Student:in ist es gar nicht so einfach, Zugang zu diesem Berufsfeld zu finden. Gerade weil die Unternehmen so viele vertrauliche Informationen über sich preisgeben, dürfen Praktikant:innen oder Werkstudent:innen selten dabei sein. Für den Anfang ist es leichter, in Bereichen zu hospitieren, die nicht ganz so sensibel sind. Zum Beispiel ein Stressmanagement-Seminar. Dort lernt man bereits eine Menge über Belastungen am Arbeitsplatz. Was allgemein Sinn macht, ist Berufserfahrung zu sammeln, um Feldkompetenz zu erwerben – auch wenn es etwas völlig anderes ist. Niemand kann ein Unternehmen beraten, ohne selbst in einem Unternehmen gearbeitet zu haben. Außerdem kann man sich fachlich fortbilden, zum Beispiel zum Thema Gefährdungsbeurteilung oder psychologische Gesundheitsförderung.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

Wir sprachen mit: 

Julia Scharnhorst ist Diplom-Psychologin, approbierte Psychotherapeutin und Autorin. Mit ihrer Firma „Health Professional Plus“ berät sie Unternehmen in allen Fragen rund um psychische Gesundheit und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz. Außerdem leitet sie seit über 20 Jahren den Fachbereich „Gesundheitspsychologie“ im Bundesverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. 

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