„Nur wer veränderungsstabil ist, kann gestalten“

Die Welt verändert sich fortlaufend, Unternehmen werden mit Innovationen und Krisen konfrontiert, viele ängstigt das Tempo des technologischen Fortschritts und Wandels. Der Unternehmensberater und Führungskräftecoach Holger Heinze erklärt im Interview, warum er Panik angesichts dieser Entwicklungen für unnötig hält und wie Unternehmen durch Veränderungsstabilität einen konstruktiveren Weg gehen können.

Holger, was verstehst du unter Veränderungsstabilität?

In der Unternehmensberatung wird oft Panik geschoben, da alles im Flow und Wandel sei und Unternehmen sich angstvoll fragen, wie sie mithalten können. Das ruft unnötig Stress bei Menschen und Organisationen hervor, weshalb wir trotz Transformationsprozessen auf Stabilität und Gelassenheit achten sollten. Der Begriff der Veränderungsstabilität ist bewusst ein vermeintlicher Widerspruch in sich und greift das Bild der radikalen Gelassenheit auf: Wenn du mit deiner Organisation im Auge eines Sturms bist, kannst du das nicht ändern. Aber ihr braucht nicht herumzurennen wie aufgescheuchte Hühner, sondern könntet Gelassenheit suchen. Sprich: Veränderungsstabilität. Diese umfasst die Summe an Fähigkeiten, die eine Organisation oder ein Mensch braucht, um in Veränderungen stabil zu sein. Nur wer veränderungsstabil ist, kann gestalten.

Ich erzähle zur Versinnbildlichung gerne eine Geschichte aus dem Kampfsport. In einer Karateprüfung namens Zombiespiel stehst du in der Mitte von einem Raum und Zombies laufen auf dich zu. Sobald sie dich berührten, gehen sie zwei Schritte weiter geradeaus. Deine Aufgabe ist es, deinen Standpunkt zu verteidigen. Du musst richtig viel Kraft aufwenden und durchgehend dagegenhalten und bist nach einer Minute völlig fertig. Der Meister sagt: „Verteidige nun nicht mehr deinen Standpunkt, sondern deine Haltung.“ Und sobald du deinen Standpunkt aufgeben kannst, bist du gewaltfrei und kannst einfach neben den „Zombies“ herlaufen. Das ist das Bild der Stabilität in unserer wilden Welt. Ich akzeptiere, dass z. B. Lieferketten zusammenbrechen, bleibe aber stabil in meiner Mitte und beschäftige mich in Ruhe mit den Herausforderungen, statt mit Gewalt dagegenzuhalten.

Was zeichnet Veränderungsstabilität aus?

Zentrales Stichwort ist Gelassenheit, aber es gehört mehr dazu, insgesamt sechs Kompetenzbereiche. Erstens, Konfliktfähigkeit: Kann ich mit Widersprüchen umgehen und als Organisation Konflikte aushalten und konstruktiv auflösen? Zweitens, Selbstführung und -verantwortung: Bin ich in der Lage, Entscheidungen dort treffen zu lassen, wo sie hingehören? Drittens, Lernfähigkeit: Gibt es eine Fehlerkultur, kann man beispielsweise zugeben, wenn das eigene Produkt nicht so gut ist wie das der Konkurrenz, um sich verbessern zu können? Viertens, Widerstandsfähigkeit und Resilienz: Ist eine Organisation überlebensfähig und kann sie gesund zwischen Krise und Alltag umschalten? Fünftens, Innovations- und Transformationsfähigkeit: Ist man in der Lage sich zu wandeln, neu zu erfinden oder inkrementell nachzusteuern? Sechstens, Resultat- und Kundenzentrierung: Verstehe ich den Purpose meiner Organisation und weiß ich Bescheid über meine Zielgruppe? Wenn Unternehmen als Ganzes in diesen Bereichen kompetent sind, dann sind sie veränderungsstabil.

Wie stellt ihr fest, ob Unternehmen diese Kompetenzen besitzen?

Mit einer Diagnostik aus über 100 Fragen, die wir einem Teil der Belegschaft stellen. Die sechs Kompetenzbereiche mappen wir auf vier Ebenen, auf denen Kompetenzen vorliegen oder fehlen können: 1. Die Ebene der einzelnen Mitarbeitenden, 2. des Teams, 3. der Führung und 4. der Gesamtorganisation. Haben eher Einzelpersonen im letzten halben Jahr eine innovative Idee entwickelt? Reden Teams oft frei über Innovationen? Reißen Führungskräfte Innovationsprozesse immer schnell an sich? Oder gibt es ein implementiertes internes Start-up-Programm, in dem man Ideen pitchen kann? Solche Fragen geben uns einen Überblick, wo Stärken und Defizite vorliegen.

Zudem ist diese Differenzierung wichtig, da es weder funktioniert, Kompetenzen nur bei den individuellen Angestellten zu fördern, noch lediglich Prozesse und Strukturen zu optimieren. Beispiel: Stell dir vor, du hast eine Fertigungslinie, regelmäßig bricht unter den Akkordarbeitenden Streit aus und sie prügeln sich mit ihren Hämmern. Nachdem du am Wochenende bei einem Streichquartett warst, nimmst du den Leuten ihre Hämmer weg und gibst ihnen Geigen. Führen die deshalb beim nächsten Konflikt ein Streichkonzert auf? Nein. Sie hauen sich mit den Geigen den Schädel ein. Das ist auf Englisch übrigens witziger, weil man am Ende sagen kann: „Violins is not the answer.“

Es genügt also nicht, nur an Strukturen und Prozessen zu drehen, wenn das richtige Mindset fehlt. Umgekehrt ist es aber auch selten von Erfolg gekrönt, wenn man nur an den Menschen herumschraubt, ohne passende Strukturen und Werkzeuge zur Verfügung zu stellen. „Seid innovativer“ ist ein frommer Wunsch ohne die richtigen Innovationsräume und -werkzeuge.

Warum ist Veränderungsstabilität heute bedeutsam?

Veränderungsstabilität umfasst viele Schlüsselkompetenzen, die für unsere dynamische Gegenwart essenziell sind: Empathie, Reflexionsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Mediation, Achtsamkeit. Anders als früher sind tagtäglich zahlreiche Entscheidungen zu treffen und der Informationsinput ist immens. Aber wie gehen Menschen damit um? Eric Bernes Dramadreieck aus der Transaktionsanalyse zeigt uns: Wenn Menschen sich begegnen, passieren Transaktionen und sie schlüpfen in Rollen.

Stephen Karpman, ein Schüler Eric Bernes, hat das Konzept auf drei Rollen runtergebrochen: Opfer, Retter, Schurke. Bei einem Lieferengpass bin ich erstmal Opfer, denn ich kann nichts dafür und leide darunter. Akzeptiere ich jedoch diese Opferrolle und fange an, meine Ziele fallen zu lassen, die wegen des Lieferengpasses unerreichbar scheinen, komme ich langfristig nicht weit. Ich trete auf der Stelle und akzeptiere die Macht, die diese Situation über mich hat. Deshalb der Gegenentwurf, die sogenannte Empowerment-Dynamik, in der es zu Opfer, Retter, Schurke Gegenrollen gibt, nämlich Gestalter, Coach und Herausforderer.
 

Porträt des Coaches Holger Heinze

Im Gespräch mit Holger Heinze (Foto: Holger Heinze / O’Donovan Consulting).

Wie kommen Unternehmen in die Gestaltung und werden veränderungsstabil?

Der Prozess ist individuell, weil jede Organisation unterschiedlich aufgestellt ist. Das klassische Management dysfunktionaler Organisationen pendelt meist zwischen Schurke und Retter hin und her. Ist eine Arbeitsleistung unzureichend, hakt die Führungskraft den oder die Mitarbeiter:in fluchend als hoffnungslosen Fall ab und erledigt den Job schnell selbst. Wir bringen Vorgesetzten stattdessen bei, dass sie Gestalter:innen bleiben und ihre Arbeitnehmenden dahinentwickeln, auch bewusst entscheidende Gestalter:innen zu werden: Entweder die Mitarbeitenden lernen und entwickeln sich da, wo das Umfeld das verlangt, oder sie entscheiden sich dagegen – dann passen sie nicht (mehr) ins Unternehmen.

Es kommt in dem Zusammenhang aber nie zu Entlassungs- oder Kündigungswellen, selbst wenn man Einzelne findet, die auf einem falschen Job sitzen und das Team oder die Organisation behindern. Im Gegenteil: Fluktuation und Krankenstand nehmen ab, da ein verbindlicher Raum für die eigene Gestaltung und eigene Ergebnisse immens wichtig ist für Menschen. Führungsaufgabe ist es aber auch, verbindlich klarzumachen, was ein Unternehmen benötigt. Und wer auf einer Position sitzt, die einen kreativen Umgang mit einer zusammengebrochenen Lieferkette erfordert, sich aber weigert und still akzeptiert, dessen Haltung passt nicht zur Funktion der Position. Dan trennt man sich – und auch das ist Gestaltung und konstruktiver, als sich selbst und gegenseitig Druck zu machen und dann trotzdem alles zu lassen, wie es ist.

Dabei ist eurer Meinung nach prinzipiell jeder Mensch in der Lage, Gestalter:in zu sein.

Das stimmt. Wenn man sich von Mitarbeitenden trennt, hat es häufig eher damit zu tun, dass man ihnen z. B. nicht die Art der Führung bieten kann, die zu ihnen passt, und nicht mit ihrer Fähigkeit zu gestalten. Es ist ein fataler Irrglaube, dass nur wenige Auserwählte gestalten können. Außerdem erschafft man eine Messias-Opfer-Konstellation, wenn man z. B. sagt: „Wir werden nicht überleben, wenn uns die jungen Leute nicht retten.“

Doch was müssen wir dafür tun, damit alle in die Gestaltung kommen? Dazu haben wir ein Vier-Faktoren-Modell entwickelt, witzigerweise aus einem Agatha-Christie-Roman heraus. Bei der Aufklärung eines Kriminalfalls stellst du drei Fragen: Wer hatte die Fähigkeit, wer das Motiv, wer die Gelegenheit? Beispielsweise braucht ein E-Auto-Fabrikant Steuerungschips aus der Ukraine, doch der Krieg verhindert die Lieferung. Er kauft daher containerweise Waschmaschinen auf, die denselben Chip nutzen, lötet die Chips raus und baut sie in seine E-Autos ein. Das ist zwar ökologisch betrachtet furchtbar, aber veränderungsstabil auf allen Ebenen: Es gibt die Skills und Werkzeuge für dieses Vorgehen, die Gelegenheit ist da, die Führung geht auf einen derart unkonventionellen Vorschlag ein.

Der vierte Faktor ist die Selbstwirksamkeit: Man lernt, mit Herausforderungen umzugehen und out of the box zu denken. Dabei macht man kontinuierlich die Erfahrung, dass man kein ohnmächtiges Opfer ist. Weder persönlich noch als Organisation.

Welche Bedingungen in Unternehmen fördern Selbstwirksamkeit und Gestaltungswillen?

Es braucht Vertrauen und einen Safe Space. Oft haben Unternehmen zwar ein unheimliches Innovationspotential bei ihren Leuten, aber der Kommunikationsdraht fehlt. Unternehmen müssen strukturell und systemorientiert ansetzen, damit alle verlässliche Kommunikationsräume erhalten. Denn sie können sich nicht darauf verlassen, dass Millennials mit den passenden Ideen um die Ecke kommen. Zwar verstehen die jungen Leute mehr von Technik und können Drucker sogar installieren, wenn der PC auf Chinesisch eingestellt ist, aber auch sie müssen konstant dazulernen. Gestalten ist kein Organ, mit dem du geboren wirst, sondern eine Haltung, die du trainierst.

Veränderungsstabilität ist also ein inklusiver Ansatz, der alle mit ins Boot holen soll?

Total. Wir halten nichts davon, jährlich nach einer Potentialanalyse die schlimmsten 30 Prozent rauszuschmeißen und die Top 10 weiter auszubilden. Das gibt auch unser Arbeitsmarkt gar nicht her. In der großen Mehrheit schlummern Potentiale, die Früchte tragen, wenn die Selbstmotivation stimmt und die Skills, Gelegenheit, Räume und Selbstwirksamkeitserfahrung da sind. Deswegen fünfmal unterstreichen: Es ist inklusiv, wir erreichen fast alle damit und das wollen wir auch.

Vorurteile wie „Menschen mögen keine Veränderung“ verkörpern stumpfes Schubladendenken. Wir können unheimlich viel und sind veränderungsfähig. Die Oma meiner Frau ist 93, ihr haben wir in der Corona-Zeit WhatsApp beigebracht. Wobei das auch nicht stimmt. Sie hat eingefordert, dass man ihr WhatsApp beibringt. Sie war motiviert, die Skills erwarb sie durch Hinweise auf Spickzetteln, die Gelegenheit war da, weil wir ihr ein Smartphone gekauft haben, und durch regelmäßiges WhatsAppen erfuhr sie Selbstwirksamkeit, sodass sie jetzt eine der aktivsten WhatsApperinnen meiner Familie ist.

Wie geht man mit Konflikten um, die womöglich bei der Planung oder Umsetzung von Innovationen entstehen?

Für Unternehmen sind verschiedene Meinungen und Standpunkte innerhalb der Belegschaft ein Asset. Dass jemand die gute Idee hat, die Chips aus den Waschmaschinen zu nehmen, ist super. Wenn andere diesen Weg als ökologischen Wahnsinn kritisieren, ist das ebenfalls gut. Unternehmen brauchen daher Polaritätskompetenz. Was heißt das? Man sieht ein, dass oft unterschiedliche, sogar gegensätzliche Sichtweisen richtig sein können und versucht, sie zusammenzubringen. In unserem Beispiel – das ist jetzt meine Fantasie – könnte man die Chips aus den Waschmaschinen nehmen, weil die stark genug sind, um die E-Autos anzutreiben. Die Firma selbst kann aber schwächere Chips für Waschmaschinen herstellen und die Waschmaschinen dann an Kinderheime verschenken. Man kann also Konflikte nutzen, um auf neue Ideen zu kommen.

Sollten alle Organisationen veränderungsstabil werden?

Es gab wohl mal eine Zeit, in der es okay erschien, kein innovatives Unternehmen sein zu wollen. Doch selbst eine Brandversicherungsfirma, die seit 150 Jahren keine Innovation in ihren Produkten hatte, kann von Veränderungsstabilität profitieren, weil sie sonst in Krisenzeiten nicht sonderlich widerstandsfähig ist. Und wenn ein neuer Player wie Amazon in den Markt drängt, dann ist es schnell zu spät für ein geordnetes Aufwachen.

Zudem nimmt durch Veränderungsstabilität die Fluktuation ab, generell in der Belegschaft, aber v. a. unter den Führungskräften: Coaching-Interventionen auf der persönlichen Ebene der Veränderungsstabilität beginnen bei uns oft mit Führungskräften, die hinschmeißen wollen. Weil sie sich unwirksam, ohnmächtig und fremdbestimmt fühlen. Am Ende sind bislang alle geblieben, denn sie haben Skills gelernt, konnten sich Gelegenheiten schaffen und Selbstwirksamkeit erleben. Erst standen sie vor einem acht Meter hohen Turm und es war unvorstellbar, wie sie jemals hinüberkommen sollen, und am Ende konnten sie springen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Wir sprachen mit: 
Holger Heinze, studierter Wirtschaftsinformatiker, ist Unternehmensberater, Autor und Speaker, 3VQ/TED-Trainer, Coach, Mastertrainer und Übersetzer der Methoden ins Deutsche. Seit 1999 arbeitet er mit Teams und Führungskräften an Kultur, Beziehungen, Veränderungen Geschäftsmodellen und Prozessen, kurz: an Veränderungsstabilität.

Kontakt: dramafrei.org | veränderungsstabil.de | E-Mail: holger.heinze@odonovan.de

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