Identity Leadership – Wie Führungskräfte ein starkes Wir-Gefühl im Team kreieren

Führungskräfte führen nicht nur Menschen und koordinieren die zu erledigende Arbeit, sie beeinflussen auch das Gefühl von Zusammenhalt im Team. Identitätsorientierte Führung hat zum Ziel, ein starkes Wir-Gefühl im Team zu entwickeln und dies als Führungskraft zu verkörpern und zu fördern. Was macht die Gruppenidentität aus und welche Folgen hat sie für kollegiales Verhalten, Zufriedenheit, Leistung und Motivation?

Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie wären Fan des englischen Fußballclubs Manchester United. Auf dem Weg zum Lokalderby gegen den FC Liverpool sehen Sie eine Person mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegen. Sie trägt ein Trikot des Erzrivalen FC Liverpool. Würden Sie dem Fan aus dem gegnerischen Lager helfen oder eher vorbeigehen?  

Die Forschergruppe um Mark Levine et al. (2005) hat sich diese Szene in einem Experiment mit zufällig ausgewählten Personen immer wieder angesehen. Sie baten die Versuchspersonen, in Fankluft zu erscheinen, und verwickelten sie in ein Gespräch über ihre Identität als Manchester United Fan. In dieser Bedingung stellten sie fest, dass die Personen im Anschluss an das Gespräch einem am Boden liegenden Schauspieler fast immer halfen, wenn dieser ein Trikot von Manchester United trug. Hatte die am Boden liegende Person ein Trikot des FC Liverpool oder auch nur ein rotes T-Shirt an, wurde die Hilfe fast immer verweigert.  

Das klingt erstmal plausibel, wenn man bedenkt, dass die beiden englischen Arbeiterstädte seit Jahrhunderten nicht nur im Fußball eine tiefe Rivalität aufweisen. Noch spannender wird das Experiment in der zweiten Bedingung, wenn die Versuchspersonen (wieder in Fankluft) erschienen, aber in ein Gespräch über Fankultur im Allgemeinen verwickelt wurden. Im weiteren Verlauf des Experiments stolperte wieder der Schauspieler in verschiedenen Outfits auf der Straße. Nun halfen die Versuchspersonen sowohl dem Fan von Manchester United als auch dem Liverpool-Fan. Die Person mit dem roten T-Shirt ließen sie fast immer liegen.  Offensichtlich reichte die Auseinandersetzung mit einer breiter angelegten In-Group (Fußballfan im Allgemeinen), um das Hilfeverhalten auszuweiten. 

Begründet wird dieses Verhalten mit der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979). Diese erklärt, wie Menschen ihr Selbstbild aus ihrer Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen ableiten. Die Gruppenidentität bildet das Fundament für viele soziale Prozesse, darunter Zusammenarbeit, Vertrauen und, wie das oben genannte Experiment zeigt, auch das Ausmaß an Hilfeleistung. Menschen, die sich als Teil der gleichen sozialen Gruppe wahrnehmen, vertrauen, respektieren und helfen einander in einem höheren Ausmaß, als dies bei Mitgliedern einer anderen sozialen Gruppe der Fall wäre (Haslam, 2001). 

Die Bedeutung der sozialen Identität in der Führung 

Im Team spielt die soziale Identität eine zentrale Rolle, da sie das „Wir-Gefühl“ stärkt und die Zusammenarbeit verbessert. Eine starke Gruppenidentität führt zu größerem Engagement, mehr Zufriedenheit und einer höheren Produktivität (Ellemers et al., 2004). Führungskräfte, die diese Identität verstehen und gezielt fördern, schaffen ein Umfeld, in dem sich die Teammitglieder verbunden fühlen und stärker zum Erfolg der Gruppe beitragen. Dieser Ansatz ist als Erweiterung traditioneller Führungsmodelle zu verstehen, die vorwiegend auf individuelle Leistung, persönliche Entwicklung und Autorität setzen (Haslam et al., 2011). 

Die vier Säulen der identitätsorientierten Führung 

Identitätsorientierte Führung setzt sich aus vier Dimensionen zusammen (Haslam et al., 2011). Diese bieten Führungskräften einen klaren Handlungsrahmen, um die Identität ihres Teams zu stärken und produktiv zu nutzen: 

  1. Ein Teil des Teams sein: Verkörpert die Führungskraft aus Sicht der Gruppenmitglieder die zentralen Merkmale der Gruppe, werden diese als prototypisch für das Team wahrgenommen. Führungskräfte, die als „einer von uns“ angesehen werden, besitzen mehr Einfluss auf die Gruppe, und die Teammitglieder sind eher gewillt, ihnen zu folgen.  
  2. Die Gemeinschaft vertreten: Identitätsorientierte Führungskräfte setzen sich für das Team ein und vertreten dessen Interessen wirksam nach außen. Das stärkt die Beziehung zwischen Führung und Team.  
  3. Die Identität der Gruppe schärfen: Wenn Führungskräfte die wesentlichen Merkmale der Gruppe erklären und immer wieder in Erinnerung rufen, stärken sie bei den Teammitgliedern das Gefühl, Teil derselben Gruppe zu sein. Durch regelmäßiges Bewusstmachen dieser Merkmale wird die Wahrnehmung der Gruppenidentität gemeinsam verfeinert und weiterentwickelt. 
  4. Rahmenbedingungen für Teamarbeit schaffen: Identitätsorientierte Führungskräfte verkörpern nicht nur die Identität der Gruppe, sie schaffen bewusst Gelegenheiten, damit diese Identität erlebbar wird. Sie sorgen dafür, dass die Gruppe regelmäßig zusammenkommt, um Prozesse und Arbeitsweisen zu verbessern, aber auch die Gemeinschaft zu pflegen. Sie fördern im Team ein Gefühl von Zugehörigkeit und stärken den Zusammenhalt der Gruppenmitglieder. 

Warum Identität der Schlüssel zur erfolgreichen Führung ist 

Die Forschung zu identitätsorientierter Führung zeigt, dass eine starke Gruppenidentität der Schlüssel zu erfolgreicher Führung ist. Wenn sich Teammitglieder als Gruppe mit gemeinsamen Zielen empfinden, sind sie eher bereit, sich aktiv einzubringen und diese Ziele zu verfolgen (Hogg & van Knippenberg, 2003). Die gemeinsame Identität beeinflusst das Verhalten und die Interaktionen innerhalb der Gruppe positiv, da sie das Vertrauen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit fördert.  

In diesem Zusammenhang zeigt eine Studie von Van Dick et al. (2006), dass Beschäftigte, die sich stark mit ihrer Gruppe oder ihrem Unternehmen identifizieren, weniger gestresst sind und eine höhere Zufriedenheit am Arbeitsplatz erleben. Zudem sind sie widerstandsfähiger gegenüber Belastungen und können besser mit Veränderungen umgehen. Führungskräfte, die auf die Stärkung der Gruppenidentität setzen, tragen also nicht nur zur Leistungsfähigkeit ihres Teams bei, sondern verbessern auch das allgemeine Wohlbefinden in der Belegschaft. Zur Stärkung eines identitätsorientierten Führungsverhaltens empfiehlt sich ein mehrstufiger Prozess: 

1. Reflektieren: 

Den Forschungserkenntnissen von Haslam et al. (2011) zufolge können Sie ein Team, eine Abteilung oder ein Unternehmen erst dann wirksam führen, wenn Sie die zentralen Merkmale und die Identität der Gruppe verstehen und auch verkörpern. Ein erster wichtiger Schritt zu wirksamer Führung ist also die intensive Auseinandersetzung mit den Werten, Normen und Überzeugungen der Gruppe. Reflektieren bedeutet, aktiv auf das eigene Team zuzugehen, Gespräche zu führen oder sich an Teamaktivitäten wie gemeinsamen Mittagspausen beteiligen. Zuhören statt Senden ist hier die Devise.  

Ebenfalls hilfreich für das Verständnis der Gruppenidentität ist die Historie des Teams: Was hat das Team in der Vergangenheit erreicht? Welche Herausforderungen hat es gemeistert? Hierbei können Visualisierungstechniken, wie Social Identity Mapping oder das Team Canvas mehr Klarheit schaffen. 

2. Repräsentieren: 

Haben Sie ein gutes Verständnis von den identitätsstiftenden Merkmalen des Teams entwickelt, versuchen Sie, die gewonnenen Erkenntnisse in ihr Handeln zu übersetzen und danach zu handeln. Dies kann etwa bedeuten, dass Sie sich an bestimmten Ritualen der Gruppe beteiligen und deutlich machen, dass Sie diese Dinge schätzen und als wichtig erachten. Ob das Feierabendbier, die Unterschrift auf der Geburtstagskarte oder das Feiern von gemeinsamen Erfolgen, jede Gruppe entwickelt mit der Zeit derartige Rituale, Routinen und Artefakte. 

3. Realisieren: 

Letztlich müssen Sie sicherstellen, dass das Team effektiv arbeiten und seine Ziele erreichen kann. Identitätsorientierte Führungspersonen haben nicht nur ein gutes Gespür für die Bedürfnisse der Gruppe, sie übersetzen dies in konkrete Handlungen stellen den Teams die nötige Unterstützung bereit. Die Teams sind dadurch in der Lage, ihre Identität zu leben, zu pflegen und auch weiterzuentwickeln. Regelmäßige Rituale wie das gemeinsame Feiern von Erfolgen fördern die Gruppenidentität, stärken die kollektive Wirksamkeitserfahrung und stimulieren das Wir-Gefühl (Abrams et al., 2008). 

Fazit 

Führungskräfte, die ihr Augenmerk auf die Identität der Gruppe richten, stärken das Zugehörigkeitsgefühl und fördern die Motivation und Einsatzbereitschaft der Teammitglieder. Diese Form von Führung ist insbesondere in Umgebungen bedeutsam, in denen hybride Zusammenarbeit und agiles Arbeiten zum Alltag gehören, weil hier die Gruppenmitglieder weniger oft physisch zusammenarbeiten oder auch im Zuge crossfunktionaler Projektarbeit verschiedenen Gruppen angehören. Wenn Führungskräfte neben ihren individuellen Führungskompetenzen und ihrer Vorbildfunktion die vier Säulen der identitätsorientierten Führung beherzigen, heben sie Teamarbeit auf das nächste Level. 

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