„Wer Ängste nicht anschaut, kann auch nicht aktiv mit ihnen umgehen“

Schaut man sich in der Welt um, gibt es viele Gründe, um besorgt oder ängstlich zu sein: Auf die Pandemie folgt die Inflation, der Klimawandel schreitet voran und Transformation erscheint vielen Unternehmen unabdinglich, um weiterhin zukunftsfähig zu sein. Doch Ängste mindern die Leistungsfähigkeit von Arbeitnehmenden. Prof. Dr. Julia Schorlemmer und Andreas Steffen untersuchen derzeit in der NEGZ (Nationales E-Government Kompetenzzentrum)-Kurzstudie „Angst im Wandel”, warum Organisationen die Ängste ihrer Mitarbeitenden ernst nehmen sollten und worauf es dabei ankommt.

Was untersuchen Sie in der Kurzstudie „Angst im Wandel“? 

Durch die gemeinsame Durchführung der Studie mit Andreas Steffen, u. a. als Führungscoach, Manager und Strategieberater tätig, greifen bei uns Wissenschaft und Praxis ineinander. Wir möchten aufzeigen, welche Potentiale in der öffentlichen Verwaltung für Transformation und Veränderung erfolgreich genutzt werden können, denn häufig scheitern Veränderungen an einer unzureichenden Berücksichtigung des Faktors „Mensch“. Deswegen wollen wir konkrete Handlungsempfehlungen ableiten, um Menschen aktiver in Veränderungen einzubinden und ihre Sorgen und Ängste besser zu verstehen und zu handhaben. 

Basierend auf Interviews mit Expert:innen haben wir zwanzig Zukunftsszenarien hinsichtlich Organisationsentwicklung, Führung, Kommunikation, Personalentwicklung und struktureller Veränderungen erstellt. In einer anschließenden Befragung haben Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung sowie Menschen, die sich wissenschaftlich oder beratend mit der öffentlichen Verwaltung und deren Transformation befassen, eingeschätzt, wie sehr diese Zukunftsszenarien bereits in der Realität vorliegen, wie wünschenswert sie sind, und inwieweit es strukturelle Veränderungen braucht, um aus den Szenarien Wirklichkeit werden zu lassen. Derzeit planen wir, die Studie Anfang März 2023 zu publizieren. 

Beobachten Sie generell eine Zunahme von Angst bei Arbeitnehmenden? 

Definitiv. Das zeigt sich in meiner Arbeit als Beraterin, aber auch in Studien. Momentan durchleben wir global viele Krisen und entsprechende Sorgen und Ängste. Gemäß der klassischen Stresstheorie löst Unbekanntes, z. B. das Corona-Virus im Jahr 2020, schnell ein Gefühl von Überforderung aus. Stellt man zusätzlich fest, dass man nicht über hinreichend Ressourcen verfügt, um mit diesem Unbekannten und Bedrohlichen umzugehen, entsteht Stress und womöglich Angst. Eine Gallup-Befragung zeigt, dass Sorgen, Stress, aber auch Wut und Trauer insgesamt auf der Welt über die letzten Jahre stark zugenommen haben. Sei es die Hilflosigkeit des Individuums angesichts des Klimawandels oder die Sorge wegen der Gasrechnung - diese Probleme türmen sich wie eine große Wolke auf und lassen den wahrgenommenen Handlungsspielraum schrumpfen. 

Warum sollten sich Unternehmen mit den Ängsten ihrer Angestellten befassen? 

Menschen mit Ängsten sind weniger leistungsfähig, unkonzentrierter, weniger gesund und weniger innovativ. Insofern ist die Beachtung von Sorgen und Ängsten der Angestellten für Unternehmen und Organisationen entscheidend. Es braucht kein Mitleid, sondern Verständnis und Bewusstsein den Sorgen und Herausforderungen gegenüber. Außerdem können Unternehmen Maßnahmen und Hilfsangebote einführen und sich auf die Stärkung und Aktivierung von Ressourcen fokussieren, sodass Menschen trotz Ängsten zu Leistung, Innovation und dadurch auch mehr Zufriedenheit gelangen. Dabei sollte immer dem goldenen Mittelweg gefolgt werden: Mit Krisen verbundene Gefühle dürfen und sollen thematisiert werden, aber zugleich sollte das halb volle und nicht das halb leere Glas gesehen werden. Wo gibt es Positives, wo sind wir handlungsfähig und können Handlungsräume für die Aktivierung von Ressourcen nutzen? 

Porträts von Julia Schorlemmer und Andreas Steffen

Prof. Dr. Julia Schorlemmer und Andreas Steffen forschen gemeinsam in der NEGZ-Kurzstudie „Angst im Wandel“ (Fotos: FOM Hochschule für Oekonomie und Management / privat)

Welche Maßnahmen reduzieren die Ängste der Arbeitnehmenden? 

Statt negative Gefühle zu ignorieren, sollte man sie benennen, akzeptieren und mit anderen besprechen. Wenn wir blockierende Gefühle nicht anschauen, können wir auch nicht aktiv mit ihnen umgehen. Anschließend braucht es Empathie und Verständnis von Seiten der Führungskraft. Zur Erhöhung der Handlungsfähigkeit können Unternehmen und Führungskräfte überprüfen, ob die Angestellten so eingesetzt werden, dass es eine optimale Passung zwischen ihren Fähigkeiten und den an sie gestellten Anforderungen gibt. 

Des Weiteren sind Vertrauen und Transparenz wichtig, weil Intransparenz und fehlende Informationszugänge als belastend empfunden werden. Auch sollten Unternehmen an möglichst vielen Stellen Sicherheit geben und Fehler zulassen. Sie müssen sich von dem Anspruch, immer perfekt und auf den Punkt zu funktionieren, lösen und Innovationsräume für Fehler zulassen. Dadurch können Menschen risikofreudiger werden und mehr aus ihren Fehlern lernen. 

Toleranz ist also elementar. Wie lässt sich diese erreichen, trotz vorhandener Krisen? 

Angesichts der globalen Zunahme von Sorgen, Ängsten, Trauer und Stress täte es allen gut, negativen Stress, zu hohe Geschwindigkeit und Druck herauszunehmen. Das ist leicht gesagt und häufig schwierig umzusetzen, doch man kann es zumindest für die kleinen Schritte anstreben. Beispielsweise kann ein Unternehmen, das Menschen entlassen muss, diesen Prozess wertschätzend gestalten und die Betroffenen begleiten, statt sie einfach auf die Straße zu setzen. In der öffentlichen Verwaltung hingegen wird zukünftig eher ein Mangel an Arbeitnehmenden das Problem sein. Da ist es umso wichtiger, Mitarbeitenden Raum zum Ausprobieren und für Fehler zu geben, damit sie im Unternehmen bleiben. 

Wie sollten Führungskräfte mit eigenen Ängsten umgehen? 

Auch Führungskräfte sind nur Menschen mit persönlichen Sorgen und Ängsten. Aufgrund ihrer Vorbildfunktion ist ein authentischer und menschlicher Umgang mit Emotionen allerdings noch bedeutsamer. Indem Führungskräfte gelegentlich darüber reden, was sie beschäftigt, öffnen sie dem Team zugleich Türen, um zu erzählen, wie es den Beschäftigten geht. Zudem ist die Führungskraft in der besonderen Verantwortung, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren und selbst mental gesund zu bleiben, durch Pausen, Raum zum Nachdenken und Spielregeln für eine konstruktive Kommunikation. Schließlich kann es langfristig nicht funktionieren, wenn Führungspersonen nach außen die Bedeutsamkeit von Erholung predigen, aber selbst keine Pausen einlegen. Zudem können viele Menschen ihre Sorgen und Ängste zwar lange verstecken, aber das führt häufig zu einer höheren Gereiztheit und geringeren Geduld, wodurch wiederum der Druck auf Angestellte steigt. 

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

Wir sprachen mit: 

Prof. Dr. Julia Schorlemmer ist Diplom-Psychologin, Gesundheitsmanagerin, Beraterin und Coach sowie als Wissenschaftlerin und Dozentin an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der psychischen Gesundheit im Arbeitskontext.

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